Er forschte schon früher über Thomas Robert Malthus (1766-1834), den britischen Pfarrer, Moralphilosophen und Ökonomen, der um 1800 sein als „Bevölkerungsgesetz“ bekannt gewordenes Hauptwerk ausarbeitete. Malthus‘ Entwurf war epistemisch nutzlos, aber moralisch sehr einflussreich.
200 Jahre Armutsideologie
Der Malthusianismus ist eine bis heute weit verbreitete Ideologie über die Gerechtigkeit von Armut. Zwar haben die meisten Anhänger dieser Ideologie nie etwas vom „Pfaffen Malthus“, wie Marx ihn nannte, gehört. Doch Malthus‘ Denken ist ein essentieller Bestandteil der ideologischen Hintergrundstrahlung der modernen Welt: Es muss Armut geben. (Malthus: Gott will es.) Die Gesellschaft versucht aus Mitleid, Armut zu bekämpfen. Aber dadurch wächst die Armut. Malthus formulierte das nirgends deutlicher als im Vorwort seines Essays über das Bevölkerungsgesetz:
„Ein Mensch, der in eine schon vollbesetzte Welt hineingeboren wird, der von seinen Eltern nicht jenen Unterhalt bekommen kann, der ihm rechtmäßig zusteht, und dessen Arbeit die Gesellschaft nicht bedarf, dieser Mensch hat keinen Anspruch auf den kleinsten Teil an Nahrung und hat tatsächlich kein Recht, dort zu sein, wo er ist. An der mächtigen Festtafel der Natur ist kein Gedeck für ihn bereit. Die Natur sagt ihm, sich hinwegzuscheren und wird ihren eigenen Befehl schnell ausführen, es sei denn, daß er das Mitleid einiger ihrer Gäste erregt. Wenn nun diese Gäste aufstehen und Platz für ihn machen, erscheinen sofort andere Eindringlinge, um dieselbe Gunst zu verlangen. Die Kunde vom Schmaus für alle, die kommen, füllt die Halle mit weiteren Bewerbern. Die Ordnung und Harmonie des Festes wird gestört, die vorherige Fülle an Essen verwandelt sich in Knappheit; die Fröhlichkeit der Gäste wird zunichte gemacht durch den Anblick von Elend und Abhängigkeit im ganzen Saal und das flehende Geschrei jener, die zu Recht empört sind über die verschwundenen Leckerbissen, die ihnen versprochen waren. Die Gäste erkennen ihren Fehler zu spät, sie haben die Befehle der großen Gastgeberin des Festes mißachtet, die, da sie alle ihre Gäste ausreichend versorgen will und weiß, daß sie nicht eine unbeschränkte Anzahl befriedigen kann, aus Menschlichkeit allen weitere Ankömmlingen den Zutritt verweigerte, als die Tafel voll war.“ (zitiert nach Helmut Winkler: Malthus. Krisenökonom und Moralist, Innsbruck 1996, S. 104f.)
Diese radikale Offenheit empörte die philanthropischen Leser aus der besseren Gesellschaft so sehr, dass sich zum Malthusianismus hinzu rasch der Antimalthusianismus entwickelte. Letzterer leugnete die armutsfördernde Wirkung von Mildtätigkeit, stand der Armut ansonsten aber ebenso hilflos gegenüber.
Die britische Armengesetzgebung von 1834 gilt als inspiriert vom Malthusianismus. Es gewährte am Existenzminimum orientierte Armenunterstützung unter der Voraussetzung, dass die Armen nachwiesen, dass sie unverschuldet nicht zum Arbeiten (in Arbeitshäusern) in der Lage waren. Marx‘ Theorie der „industriellen Reservearmee“ bezieht sich darauf ebenso wie Lasalles „ehernes Lohngesetz“.
Im 20. Jahrhundert entwickelte sich der Wohlfahrtsstaat, so dass die Armengesetzgebung zurückgedrängt wurde: 1929 wurden die englischen Arbeitshäuser verboten, 1948 die letzten Reste der Armengesetze abgeschafft.
In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist es in der Diskussion über Armut in den Industrieländern relativ still um Malthus geworden – stattdessen wurde er im Diskurs um globale Überbevölkerung und die „Dritte Welt“ massiv rezipiert: Die Angst vor der stetig anwachsenden Horde von Armen, die, ausgehend von der Südhalbkugel, die Industriestaaten überrennen könnte, existiert bis heute.
Die neuen Tafeln für die Armen
Aber gegen Ende des 20. Jahrhunderts konnte Malthus auch in den reichen, industrialisierten Staaten wieder Fuß fassen: Ihre eigenen Armutsdiskurse kehrten zurück. Diesmal stieg die Zahl der Armen aber nicht durch Vermehrung an, wie Malthus es konzipiert hatte, sondern durch das Reicherwerden der Reichen, durch die Schwächung des nach dem Zweiten Weltkrieg errichteten sozialen Netzes und durch die so ermöglichte Realisierung von Lebenslaufrisiken für Armut.
Die Journalistin Kathrin Hartmann hat ein zeit- und gesellschaftskritisches Buch darüber geschrieben. Von Malthus wusste sie dabei nichts, vom Malthusianismus alles:
- Kathrin Hartmann: Wir müssen leider draussen bleiben. Die neue Armut in der Konsumgesellschaft. Blessing, München 2012.
Das Buch hat viel Lob geerntet,[1][2][3] besonders aber bei den Rezensenten jene Betroffenheit ausgelöst, die auch die Malthus-Leser erfuhren. Besonders deutlich fasst die Autorin in einem sehr lesenswerten Interview ihre Perspektive zusammen:
- Reinhard Jellen: „Die Reichen sind die wahren Sozialschmarotzer“. Gespräch mit Kathrin Hartmann über Hartz IV, Super-Gentrifizierung und die Politik der Tafeln. In: Telepolis, 2. Mai 2012.
In den „Tafeln“, der institutionalisierten Mildtätigkeit, blickt dem Leser unverwandt Thomas Robert Malthus aus dem England des 18. Jahrhundert entgegen. Hartmann:
„Die Tafeln sammeln übriggebliebenes Essen von Supermärkten, das sonst weggeschmissen werden würde und verteilen es an die Bedürftigen. Das klingt zwar super, weil es so pragmatisch daherkommt […] Tatsächlich zeigt es aber sehr deutlich den Ausschluss der Armen aus unserer Konsumgesellschaft, denn für die Armen bleiben nur noch die sprichwörtlichen Brosamen übrig. Und es suggeriert, dass man gegen Armut in diesem Land nichts mehr zu machen braucht, weil die Armen über die Tafeln aufgefangen würden. […]
Es gibt die Reichen, die geben und es gibt die Armen, die nehmen. Das ist wie im 19. Jahrhundert. […]
Die Tafeln, die anfangs obendrein sogar von McKinsey beraten wurden, verdecken so aber die Ursachen der Armut. Überdies wird an den Tafeln die Armut moralisiert und individualisiert: Denn auch dort werden die Armen in gute und unschuldige Arme und die schlechten, gierigen Armen aufgeteilt. […]
Es hat nicht jeder Arme Zugang zu den Tafeln. Die Kapazitäten sind begrenzt […], deutschlandweit decken die Tafeln weniger als zehn Prozent der Bedürftigen ab. Außerdem gibt es nur so viele Lebensmittel wie eben gerade da sind […]. Aber Ansprüche stellen kann dort keiner. Auf Almosen gibt es keinen Rechtsanspruch.“[4]
Ironischerweise ist im Namen der Organisationen sogar Malthus‘ „Festtafel der Natur“ verewigt. Tatsächlich bestimmt aber nicht die Natur, wieviel Gedecke auf den Tisch kommen, sondern die reichen Wohltäter.
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„In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist es in der Diskussion über Armut in den Industrieländern relativ still um Malthus geworden“.
Das ziehe ich so aber in Zweifel. Zwar mag die offenherzige Bezugnahme zu Malthus abgenommen haben, aber die Bezüge – wie zum Menschenbild, zur These der selbst verschuldeten Armut usw. – sind immer noch vorhanden. Praktisch liest sich die Entwicklung der Sozialgesetzgebung der BRD wie ein langsames Erwachen Malthusianischer Elemente, die mit den Hartz-IV-Diskussionen wieder durchbrachen (Faulenzerdebatten usw.).
Ich verstehe den Einwand. Aber wenn das die ganze Entwicklung der Sozialgesetzgebung der BRD durchzöge, dann müsste man schlussfolgern, dass es in der NS-Sozialgesetzgebung nicht vorhanden war (oder am weitesten zurückgedrängt). Ich glaube das Gegenteil: Die Nazis haben am allerstärksten die „nutzlosen Esser“ als überflüssig erklärt, industriell ermordet und andernorts einfach verhungern lassen durch Abtransport aller Nahrungsmittel.
(Andererseits haben die Nazis dann die abtransportierten Lebensmittel „ins Reich“ geschafft und dort dafür gesorgt, dass es den „Herrenmenschen“ im Krieg versorgungsmäßig ziemlich gut ging.)
Die frühe Sozialgesetzgebung der BRD hat sowas nicht wieder haben wollen und dem Menschen grundgesetzlich einen Eigenwert garantiert. In der Tat ist dieser Eigenwert heute in Frage gestellt durch ein „Nur wer arbeiten will, soll auch essen“. Aber die grundgesetzliche Schranke hat bisher Schlimmeres verhindert.
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OK, das war meinerseits etwas missverständlich ausgedrückt. Wenn wir den „neuen“ Sozialstaat nach 1945 als „Restart“ bezeichnen würden, bei dem die Malthusianischen Elemente Tabu waren, dann „wachten“ diese Elemente zunehmend wieder auf; vielleicht hätte ich daher von „Ent-Tabuisierung“ schreiben sollen.
Insofern bin ich davon überzeugt, dass die Malthusianischen Elemente aus der Nazi-Zeit zurückgedrängt wurden, allerdings nicht vollends. Einzelne „Fragmente“ blieben.
Ich glabe zwar auch, dass mit dem Grundgesetz der Mensch einen Eigenwert garantiert werden sollte. (Allerdeings: Ist das nicht auch schon wieder eine Malthusianische Argumentation? Warum muss mensch einen „Wert“ haben? Erinnert das nicht zu stark an ökonomische Kategorien?)
Andererseits gab es im Sozialhilfegesetzen immer Elemente der Arbeitsdisziplinierung, mit denen im Zweifelsfalle dem Menschen die Sozialtransfers verweigert werden konnte. Ich spitze jetzt mal bewusst zu: Der grundsätzlich garantierte „Eigenwert“ galt nur für den arbeitenden oder arbeitswilligen Menschen.
Wenn ich mich recht erinnere, gab es von der Arbeitskammer Bremen eine Dokumentation der Sozialgesetzgebung. Dort ging m. E. sehr gut hervor, wie diese arbeitsdisziplinierenden Elemente Stück um Stück verstärkt wurden.
DAS war, was ich mit dem „Wiedererwecken“ der Malthusianischen Elemente meinte (dabei aber nicht die Nazi-Zeit in Abrede stellen wollend).
Zitat: „Die Nazis haben am allerstärksten die ’nutzlosen Esser‘ als überflüssig erklärt, industriell ermordet und andernorts einfach verhungern lassen durch Abtransport aller Nahrungsmittel.“
Kleine Ergänzung: Der wesentliche Keim dieser Denkart lag m. E. im damals recht weit verbreiteten Biologismus, der sich – gepaart mit einzelnen anthropologischen Ansätzen – mit den Rassismustheorien vermischte. Ob die Nazis „am allerstärksten“ (gemessen woran?) die „’nutzlosen Esser‘ als überflüssig erklärt“ haben, weiß ich nicht. Fakti st aber, dass die Nazis das konsequent umsetzten.
Ich betone das deshalb, weil diese biologistische Denkart bis heute nicht verschwunden ist. Obwohl ich der Meinung bin, dass solche Exzesse wie bei den Nazis zumindest in Deutschland nicht mehr möglich sind, stelle ich aber auch fest, dass diese Denkart
a) auch bei uns nie gänzlich verschwand (siehe Wolfgang Clement, der als Minister für Wirtschaft und Arbeit damals wieder von „Parasiten“ sprach und Erwerbslose meinte) und
b) andernorts wieder bedenkliche Formen annimmt. Wenn ich mich recht erinnere, war im letzten Jahr über Ungarn zu lesen, dass dort über Zwangsarbeit – für langfristig Erwerbslose – mit entsprechenden „Arbeitslagern“ nachgedacht wurde.
Ja, das ist richtig, gut analysiert. „Wert“ des Menschen durch Arbeit gehört in gewisser Weise zum ideologischen Kernbestand des Kapitalismus. Dies entspringt sicherlich dem Protestantismus.
Malthus formulierte lediglich – in unverblümter Weise – die zusammengehörigen Ideologeme, die zu seiner Zeit bereits weitgehend existierten. Die englische Armenhilfe war damals vom System der Arbeitshäuser geprägt: Fürsorge gegen gehorsame Arbeitsleistung.
Hoffen wir, dass das Grundgesetz als Ideal dem Menschen nicht nur einen Eigenwert zuspricht, sondern auch ein Eigenrecht – auf Leben zum Beispiel.
Die britische Gesetzesinitiative, die heute verkündet werden soll, erinnert allerdings mal wieder stark an Malthus: Jobseekers who reject help for alcohol and drug addiction face benefits cut, d.h. wenn die Dame vom Amt meint, jemand sei drogen- oder alkoholsüchtig, und der Betreffende bestreitet das oder verweigert die vorgeschriebene Behandlung, dann hat er es nicht anders verdient…
Wie die vorgeschriebene Behandlung aussieht, das lässt sich natürlich anpassen: Zu den Anonymen Alkoholikern gehen (was soll das bringen, wenn es nicht freiwillig ist?) könnte abgelöst werden von Armenhäusern, in denen die Armen Arbeit bekommen, weggeschlossen werden und von den Drogen ferngehalten. Und wenn das auch nicht hilft, entwickelt vielleicht jemand eine Elektroschocktherapie gegen Alkoholismus.
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