Über Freundschaft

Ereignete sich zwar Manches Weltbewegendere derzeit, so lohnt doch stets der Blick auf die einfachen Dinge im Leben:

„It’s good to work, work hard and prosper,
as long as you take time to find
the simple things,
that come without a price,
the simple things
like happiness, joy, and love in my life.
I’ve seen it all from so many sides,
and I hope you would agree,
that the best things in life
are the simple things.“

— Joe Cocker: The Simple Things (1994)

Von Cocker nicht eigens erwähnt wird die Freundschaft. Sie ist aber offensichtlich mitgemeint, da sie die explizit gewünschten simple things, die Gefühle happiness, joy, and love erzeugen kann, kein Preisschild trägt, aber das Nehmen von Zeit (neben der harten und gedeihlichen Berufsarbeit) erfordert, um sie zu realisieren.

Cocker (oder seine Songautoren Rick Neigher, Philip Roy und John Shanks) liegt damit auf der Linie der neueren sozialpsychologischen Forschungen über Freundschaft, die Sarah Zimmermann im aktuellen Heft des populärwissenschaftlichen Magazins Gehirn&Geist vorstellt:

Dabei kommen überraschende Belege für uralte Weisheiten zu Tage – bezeichnend, dass Zimmermann ihren Artikel in einem Wort Francis Bacons von 1625 über die Wirkung von Freundschaft kulminieren lässt:

„Sie verdoppelt die Freude und halbiert das Leid.“

Die experimentell-quantifizierende Sozialpsychologie hat aber in den vergangenen Jahren im Wesentlichen technischer formulierte Forschungsergebnisse zum Thema hervorgebracht. So heißt es dort komprimiert:

„Je häufiger wir einen flüchtig bekannten Menschen sehen, desto sympathischer wird er uns […]. Psychologen erklären sich diesen so genannten Mere-Exposure-Effekt […] so: Was wir gut kennen, kann unser Gehirn leichter verarbeiten, und so empfinden wir Vertrautes als belohnend. Die Basis für eine neue Freundschaft ist dann schon gelegt – ohne dass wir aktiv etwas dafür tun mussten.“

Solcherart Analysen passen zweifellos besser in die Gegenwart als romantisierende Freundschaftsbestimmungen. Doch genau das ist der Fehler, den diese populärwissenschaftliche Darstellung begeht – vermutlich ebenso wie die zugrundeliegenden Untersuchungen: Das sei nun einmal so, das sei das Wesen von Freundschaft, wird suggeriert. Dabei geht es stets bloß um das, was die Forscher und die Erforschten als Freundschaft bezeichnen. „Das ist Freundschaft“, sagen sie, und setzen damit das Wesen des zu Erforschenden voraus. Den linguistic turn macht solche Art Wissenschaftspopularisierung – und vermutlich auch solche Art Forschung – nicht mit.

Der Effekt dieses Versäumnisses ist es, im Diskurs gefangen zu bleiben: Genau das, was über Freundschaft üblicherweise gesprochen wird, muss daher bei solchen Studien herauskommen. Joe Cocker, Francis Bacon (dessen Diktum als „geteiltes Leid ist halbes Leid“ im modernen Alltag präsent ist) oder die Beatles („With a Little Help from My Friends“, 1967, vgl. Gehirn&Geist: „Gebote der Freundschaft: 1. in schlechten Zeiten Hilfe anbieten“, 2013) kannten deshalb die wesentlichen Ergebnisse dieser modernen Forschungen bereits.

Den schönsten Beleg, dass solcherart Forschung nur den Freundschaftsdiskurs der betreffenden Gesellschaften untersucht, bietet aber die zitierte „neurowissenschaftliche“ Erklärung für den Mere-Exposure-Effekt, dass wir deshalb mögen, was wir gut kennen, weil unser Gehirn es gut kennt. Es handelt sich dabei nämlich um die Freundschaftsdefinition eines Roboters. In der Episode Legacy (4×06) sagt der popkulturelle Android schlechthin, Lieutenant Commander Data vom Raumschiff Enterprise, dass er – obwohl er keine Gefühle habe – Freunde habe, und was dies bedeute:

„As I experience certain sensory input patterns, my mental pathways become accustomed to them. The input is eventually anticipated, and even missed when absent.“[1]

„Wenn ich gewisse sensorische Inputmuster aufnehme, können sich meine mentalen Pfade durchaus an sie gewöhnen. Der Input wird manchmal vorher gespürt und sogar vermisst, wenn er weg ist.“[2]

Dabei handelt es sich nicht um eine x-beliebige Stelle aus dem Skript, sondern um einen mehrfach wiederaufgegriffenen Schlüssel für die Figur Data, zu deren Kernthemen Freundschaft gehört. In seiner emotionslosen Lebenswelt ist sein operationalisierbarer Freundschaftsbegriff ein entscheidendes Puzzleteil auf der Suche des Androiden nach Menschlichkeit.

Als Ahnherr des Androidentums wie der modernen Freundschaftsforschung erweist sich wieder: Francis Bacon (1561-1626). Der englische Philosoph begründete das Wissenschaftsideal der Neuzeit, indem er einerseits lehrte, der Mensch müsse als Diener den Regeln der Natur gehorchen, um sie zu erkennen – andererseits, die Menschheit könne durch die wissenschaftliche Naturerkenntnis ihre Herrschaft über die Erde verwirklichen: Der erfolgreiche Nachbau von Naturprozessen erweist demnach die richtige Naturerkenntnis. Der als Maschine nachgebaute Mensch würde daher die Richtigkeit der Freundschaftstheorie beweisen, wenn seine Androidenfreundschaft so funktioniert wie Datas.

Der Knackpunkt an der maschinellen Rekonstruktion von Freundschaft wie an ihrer theoretischen Modellierung (bei der die beschriebenen Freundschaftsstudien derzeit offenbar stehen) ist jedoch, dass in beiden Fällen genau das herauskommt, was zuvor hineingesteckt wurde: Der den gesellschaftlichen Diskurs prägende Freundschaftsbegriff – ein mechanisches Surrogat.

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9 Antworten zu “Über Freundschaft

  1. Warum ist es denn nicht ok, dass bei der maschinellen Rekonstruktion das herauskommt, was hereingesteckt wurde?

  2. Es handelt sich um einen Zirkelschluss: Als Prämissen werden die im gesellschaftlichen Diskurs präsenten Annahmen über Freundschaft gesetzt. Nach dem mechanischen Nachbau lautet die Konklusion, Freundschaft entspreche den im gesellschaftlichen Diskurs präsenten Annahmen über Freundschaft.

  3. Die Annahmen legen das „was“ fest und stecken den Rahmen ab. Ohne diesen Rahmen wissen wir nicht „was“ wir bauen wollen und können auch nicht verifizieren, ob unser Nachbau das tut, was er tun soll.

    Der Nachbau beschreibt das „wie“. Selbst wenn wir Menschen genau wissen, was zum Beispiel ein Tisch ist, bleibt unklar, wie man auf algorithmischer Ebene einen Tisch erkennen kann. Wir beschäftigen uns also damit, „wie“ ein System etwas tut, um das „was“ zu erkennen.

    Haben wir unser System gebaut, so müssen wir prüfen, ob das „wie“ auch das tut, was es tun soll, nämlich das „was“ zu erkennen. Habe ich beim „wie“ Fehler gemacht, kommt nicht mehr das raus, was ich vorher reingesteckt hatte. Es kann natürlich sein, dass das „was“ bereits so repräsentiert wird, dass das „wie“ zu einer Trivialität verkommt.

    Ich bin allerdings nicht vom Fach und deswegen unsicher, ob ich das hier alles richtig verstanden habe.

  4. Der Roboter, der Freundschaft erlebt, ist kein Programm zum Erkennen von Freundschaft. (Einen Tisch baut man nicht, um einen Tisch zu erkennen.) Das Erkennen von Freundschaft ist nochmal ein eigenes Problem, das aber ähnliche Knackpunkte hat wie die Simulation (der Nachbau) von Freundschaft.
    Indem diese Art Sozialpsychologie Freundschaft als etwas mechanisch Modellierbares beschreibt, reduziert sie Freundschaft darauf und trägt auf diese Weise einen Freundschaftsdiskurs, laut dem Freundschaft nichts anderes ist als dieses Mechanische. Ich wollte darauf hinweisen, dass bei dieser Art Forschung die Ergebnisse in weiten Teilen vorher feststehen. Das erfüllt aber nichtmal basale wissenschaftstheoretische Anforderungen wie Poppers Falsifikationskriterium.
    Danke fürs Nachfragen, ich habe den Eindruck, mein Anliegen so nochmal präzisieren zu können.

  5. Ich habe das noch nicht ganz verstanden.

    Schauen wir uns zum Beispiel die Physik an. Dort gibt es haufenweise Atommodelle. Keines der Modelle hat den Anspruch sämtliche Eigenschaften der Materie vollständig zu erfassen und keines der Modelle kann das. Man beobachtet die Natur, baut ein Modell und dann schaut man, ob sich die Natur auch so verhält, wie das Modell beschreibt. Für einige Eigenschaften der Materie sind bestimmte Atommodelle gut, für andere dagegen ungeeignet, was dann zu einer Weiterentwicklung führt.

    Bereits bei der Modellbildung steht fest, dass die Komplexität der Realität reduziert wird, dass es sich also um ein vereinfachtes Abbild handelt, um beobachtbare Vorgänge zu verstehen oder vorherzusagen.

    Es sollte also nicht die Freundschaft auf das Modell reduziert werden, sondern das Modell sollte einen kleinen Ausschnitt aus der Freundschaft vereinfacht abbilden und bestimmte Eigenschaften beschreiben.

    Wird das so in der Freundschaft gemacht?

  6. Pingback: Von Modellen und Reduktionen | Erbloggtes

  7. Ehrliches Unverständnis ist prima 🙂
    Vorstehender Pingback ist ein ausgeuferter Versuch der Beantwortung der Frage.
    (Gratulation übrigens zur Erwähnung Deines jüngsten Artikels im Bildblog! Wieviele Leser bringt das denn so?)

  8. Vielen Dank für Deine Mühe, mir meine Frage zu beantworten. Ich muss zugeben, dass ich bei Deinen Texten öfters an meine eigenen Grenzen stoße. Mir fehlt schlicht der Geist und das nötige Wissen für viele Dinge, über die Du sprichst. Ich werde wohl noch paar mal über Deinen Text rüber gehen müssen.

    Ein Bildblog Artikel bringt etwa 2000-3000 Leser. Dazu kommen dann nach paar, die das über andere Seiten weiter verlinken.

  9. Danke für Dein Feedback! In der Tat ist die tiefer gehende Begründung erkenntnistheoretischer Positionen ein hartes Brot.

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