Erfordert es so ausgiebige Vorüberlegungen wie in diesem Fall, die Bedeutung des Whistleblowerbegriffs für die Wissenschaft auszuloten? Bekanntlich war der Umgang mit Whistleblowern in der Wissenschaft in den vergangenen Wochen bereits ein vieldiskutiertes Thema. Doch bedeutet Whistleblowing in der Wissenschaft etwas anderes als sonst? Ohne den Begriff zu benutzen fragten Bildungspolitiker aller Bundestagsfraktionen in ihrem Schreiben an die Wissenschaftsorganisationen vom 1. März 2013 nach Maßnahmen zum Schutz von Whistleblowern:
„Welche konkreten Maßnahmen zum Schutz von Informanten wurden in den vergangenen Jahren umgesetzt, die eine Anzeige von wissenschaftlichem Fehlverhalten erleichtern und die Risiken für weisungsgebundene Wissenschaftler und den wissenschaftlichen Nachwuchs begrenzen? An welchen Einrichtungen existieren anonyme Anzeigemöglichkeiten?“
Dass derartige Maßnahmen fraktionsübergreifend erwünscht sind, lässt sich freilich nicht annehmen. Es dürfte sich eher um Anliegen von MdB Petra Sitte (Die Linke) handeln, die hinter diesem letzten Aufzählungszeichen formuliert wurden. Dabei fordern sie – wie noch deutlich wird – lediglich ein, was bereits 1998 allgemein verlangt worden war. Interessant ist, dass der weitere Begriff Informant statt der typischen Bezeichnungen Whistleblower oder Hinweisgeber gewählt wurde. Dies verweist darauf, dass sowohl der Münsteraner Doktorand, der zuerst Plagiate in Guttenbergs Arbeit entdeckt, aber gemäß dem Rat seines Doktorvaters nicht öffentlich gemacht hatte,[1] als auch „Robert Schmidt“, der auf Schavanplag die Dissertation der Bildungsministerin analysierte, keine Insider waren:
Sie kannten die Plagiate nicht aus den Betrieben der Unis Bayreuth oder Düsseldorf, und auch nicht aus ihrer Einweihung in das berufliche oder persönliche Umfeld der Plagiatoren. Von den drei aus der Wikipedia abgeleiteten Kriterien für Whistleblower trifft auf sie also nur das dritte zu: Sie erweisen sich durch Veröffentlichung als loyal gegenüber der Allgemeinheit – oder im Fall des Münsteraner Doktoranden durch Nichtveröffentlichung als illoyal aus Furcht vor den negativen persönlichen Folgen. Der Parlamentarierbrief forderte zur Bekämpfung dieser allgemeinheitsschädlichen Furcht die Begrenzung der „Risiken für weisungsgebundene Wissenschaftler und den wissenschaftlichen Nachwuchs“. Die Hochschulrektorenkonferenz (HRK) setzte in ihren Empfehlungen vom 14. Mai 2013 jedoch das Gegenteil um:
„Die Vertraulichkeit ist nicht gegeben, wenn sich der Hinweisgeber mit seinem Verdacht an die Öffentlichkeit wendet. In diesem Fall verstößt er regelmäßig selbst gegen die Regeln der guten wissenschaftlichen Praxis.“[2]
Der Begriff des Hinweisgebers oder Whistleblowers im wissenschaftlichen Ombudswesen wird dort unreflektiert verwendet. Das ist wohl auch der Grund dafür, dass sich an obiger Formulierung der HRK eine breite öffentliche Debatte bis hin zur Zeitschrift Nature entzündete, während die neue Empfehlung 17 der DFG zumindest Interpretationsprobleme aufwirft: Mit „Hinweisgeber (sog. Whistleblower)“ ist sie überschrieben,[3] doch die dort eingeführte Definition dieses Begriffs lautet lediglich:
„Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die einen spezifizierbaren Hinweis auf einen Verdacht wissenschaftlichen Fehlverhaltens geben (Hinweisgeber, sog. Whistleblower)“.[3]
Es ist keine Rede von ihrem Insidertum, sie müssen demnach also nicht eingeweiht in den betreffenden Betrieb sein. Von der erwarteten Loyalität, die aus dieser Mitgliedschaft zur betreffenden Organisation entspringt, ist ebenfalls nicht die Rede. Und schließlich enthält die Definition nicht die Loyalität gegenüber der Allgemeinheit, in deren Interesse der Whistleblower handelt. Dieses dritte Kriterium für Whistleblowing kommt allerdings in der anschließend genannten Voraussetzung von „gutem Glauben“ verklausuliert zur Sprache, man könnte auch von guten Absichten sprechen. (Wie schwierig es andererseits wäre, böse Absichten nicht nur zu unterstellen, sondern auch nachzuweisen – etwa die berüchtigte Täuschungsabsicht von Plagiatoren – konnte man im Fall der Annette S. gut beobachten.)
Missverständnisse des Ombudswesens
Es lässt sich schlussfolgern, dass es der Wissenschaftspolitik, die in intransparenter und undemokratischer Weise die Wissenschaftsfreiheit in Deutschland auszuhebeln droht (siehe besonders Abschnitt „V. Katharsis?“), nicht um den Schutz von Whistleblowern geht. Es geht nach dem Wortlaut der neuen DFG-Empfehlung 17 überhaupt nicht speziell um Whistleblower nach den zuvor vorgestellten Kriterien. Sondern es geht dabei um jeden „spezifizierbaren Hinweis auf einen Verdacht wissenschaftlichen Fehlverhaltens“,[3] egal ob aus Insider-Whistleblowing hervorgehend oder aus öffentlich bekannten Informationen (wie Dissertationen) erlangt.
Allen diesen Hinweisen auf wissenschaftliches Fehlverhalten wird durch eine groteske Ausdehnung der Denotation des Begriffs Whistleblower ein Ombudsverfahren aufgenötigt, das von der DFG in ihrer ursprünglichen Denkschrift zur guten wissenschaftlichen Praxis 1998 als Mediationsverfahren konzipiert wurde. Besonders leicht lässt sich dies in der englischen Fassung von Empfehlung 5 (im selben Dokument, S. 53) zeigen, die vollständig lautet:
„Universities and research institutes shall appoint independent mediators to whom their members may turn in conflict situations, including cases of suspected scientific misconduct.“
Der zugehörige Kommentar betont, dazu sei ein „impartial and qualified mediator“ erforderlich. Für die Untersuchung und Entscheidung über akademisches Fehlverhalten sei aber nicht die Ombudsstelle zuständig, sagt Empfehlung 5. Diese soll lediglich anbieten, „Vorwürfe wissenschaftlichen Fehlverhaltens vertraulich entgegenzunehmen und im Bedarfsfall an die verantwortliche Stelle weiterzugeben“.
Das Wort vertraulich zeigt hier an, dass die Ombudsperson für einen echten Whistleblower ansprechbar sein soll, um dessen Anonymität zu schützen, oder, sofern das ein Problem darstellt, andere Lösungen für den Umgang mit den brisanten Informationen im Interesse der Allgemeinheit zu finden. Im Minimalfall sollte die Ombudsperson also als anonymer Briefkasten für personenunabhängige Belege wissenschaftlichen Fehlverhaltens fungieren und diese an die Stelle zur Untersuchung von Fehlverhalten weiterreichen. DFG-Empfehlung 17 schreibt dies heute fort:
„Die Vertrauensperson (Ombudsman) wie auch die Einrichtungen, die einen Verdacht überprüfen, müssen sich für diesen Schutz in geeigneter Weise einsetzen.“[3]
Dabei ist „diesen Schutz“ unspezifisch und greift keinen vorher benannten Schutz auf, sodass nur das Verbot von Nachteilen für Whistleblower als Ziel des Schutzes auszumachen ist. Der Kommentar zu Empfehlung 17 führt jedoch aus:
„Die Überprüfung anonymer Anzeigen ist durch die Stelle, die den Vorwurf entgegennimmt, abzuwägen. Grundsätzlich gebietet eine zweckmäßige Untersuchung die Namensnennung des Whistleblowers. Der Name des Whistleblowers ist vertraulich zu behandeln. Eine Offenlegung des Namens gegenüber dem Betroffenen kann im Einzelfall dann geboten sein, wenn sich der Betroffene andernfalls nicht sachgerecht verteidigen kann.“[3]
Dabei ist klar, dass die konsequente Anonymisierung von Hinweisgebern durch die Ombudsstelle, die ihr bester Schutz vor Nachteilen wäre, aufgeweicht wird. Fälle, in denen „sich der Betroffene andernfalls nicht sachgerecht verteidigen kann“, sind ohnehin nur denkbar, wenn es sich beim angestrebten Ombudsverfahren um eine Mediation handelt: Eine Mediation kann nur zwischen zwei (oder mehr) einander bekannten Parteien erfolgen. Wenn es jedoch um die Untersuchung und Sanktionierung wissenschaftlichen Fehlverhaltens im allgemeinen Interesse geht, also etwa Fälschung und Plagiat, ist ein Mediationsverfahren grundsätzlich ungeeignet:
Eine Mediation ermöglicht es den Konfliktparteien durch Vermittlung einer unparteiischen Stelle (hier der Ombudsperson), eine den gemeinsamen Bedürfnissen und Interessen entsprechende Übereinkunft zu erzielen. Der Mediator greift dabei nicht als Vertreter eigener oder Dritter Interessen in den Konflikt ein. Ebendies wäre aber bei der Einleitung einer Untersuchung wissenschaftlichen Fehlverhaltens erforderlich, die ja insbesondere die Interessen der Allgemeinheit, der scientific community und der Einrichtung, an der das wissenschaftliche Fehlverhalten gegebenenfalls stattgefunden hat, gegenüber dem möglichen unredlichen Wissenschaftler vertreten soll.
Bei der DFG ist im Gegensatz zur HRK der Wille erkennbar, Whistleblower aufgrund ihrer unverzichtbaren Funktion für die Wissenschaft zu schützen. Das regt offenbar HRK-Präsident Hippler sehr auf, wie Stefan Heßbrüggen herausgearbeitet hat (Abschnitt „IV. Plötzliches Umschlagen“). Die Ambivalenz, mit der die DFG in ihrer eigenen Position zu kämpfen hat, zeigt sich aber in den unausgesprochenen Voraussetzungen ihres Kommentars zu Empfehlung 17:
„Nicht der des Fehlverhaltens Bezichtigte alleine bedarf des Schutzes der Institution, sondern auch der Hinweisgeber.“[3]
Mit dieser Formulierung grenzt sich die DFG offenbar von einer gegenteiligen Vorstellung ab, die besagt, nur „der des Fehlverhaltens Bezichtigte“ müsse von der Institution der Ombudsperson geschützt werden. Wem diese absurd erscheinende Position zuzurechnen ist, wird nicht klar gemacht. Aber es ist anzunehmen, dass sie sich auf Forderungen an die Praxis oder sogar praktische Realisierungen bezieht, die genau diesen Beschuldigtenschutz zur obersten Priorität der Ombudsstellen erhoben haben oder erheben. Auch die HRK-Empfehlungen sind dieser Position zuzurechnen. Und in der neuen DFG-Empfehlung drückt sie sich immerhin in der Formulierung aus:
„Es ist nicht hinzunehmen, dass die frühzeitige Herstellung der Öffentlichkeit durch die informierende Person einen Reputationsverlust des Betroffenen zur Folge hat.“[3]
Wissenschaft ist eine öffentliche Veranstaltung. Wissenschaft hat ständig Reputationsverluste (und Reputationsgewinne) zur Folge. Wenn bloße Behauptungen Wissenschaftlerreputationen nachhaltig beschädigen könnten, stünde es schlecht um die Wissenschaft. Wer allerdings mit Beweisen für Behauptungen an die Öffentlichkeit geht, kann darauf rechnen, dass die Wahrheit sich durchsetzt. Und im Fall wissenschaftlichen Fehlverhaltens hat die Wahrheit einen Reputationsverlust des unredlichen Wissenschaftlers zur Folge. Das ist hinzunehmen, egal zu welchem Zeitpunkt.
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Die oben erwähnte problematische Stellung der Ombudspersonen wurde von Ulrich Herb am 4. Juli 2013 im scinoptica Blog unter „Whistleblowing & die Wissenschaft“ bereits diskutiert. Er verwies auf die von G. Fröhlich (2006) geschilderte regelmäßige Erfahrung vom „Versagen der wissenschaftlichen Institutionen und ihr[em] Unwillen, eindeutig nachgewiesene Plagiate bzw. Fälschungen bekanntzugeben“. Stattdessen neigten Ombudsleute dazu – wie bei einer Mediations- oder Schlichtungsstelle nicht ganz fernliegend – Fehlverhalten „als ‚persönliches Problem‘ zwischen dem Plagiator und dem Aufdecker sozialpsychologisch herunterzuspielen.“ Da besteht offensichtlich ein Zielkonflikt für die Arbeit der Ombudsstellen.
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