Die Angst, die Opfer und die Täter

Erarbeitetes ist die zentrale Ware, von deren Verkauf Arbeitskraftbesitzer leben. Wer nichts als die eigene Arbeitskraft besitzt, ist ein Arbeiter. Infolge der Digitalisierung setzen die Produkte geistiger Arbeit fast keinen Verbrauch von Rohstoffen mehr voraus. Der Wert des Produkts ergibt sich zu einem immer größer gewordenen Anteil aus dem Arbeitslohn. Das sind die 99 Prozent. Das bedroht die gesellschaftliche Funktion jener, die bisher ihr Eigentum in den Produktionsprozess investierten, um damit Anteile fremder Arbeitskraft zu erwerben und in der Wertschöpfung einen Anteil für unternehmerischen Gewinn zu etablieren. Wer sich eine Beteiligung an den Erträgen fremder Arbeitskraft sichert, ist ein Eigentümer.

Die Kämpfe des 21. Jahrhunderts sind Kämpfe um den Wert geistiger Arbeit. Wo man um Rohstoffe kämpft, ist das 21. Jahrhundert noch nicht angekommen. Die Ergebnisse geistiger Arbeit sind ersatzweise „Rohstoffe“, die gewaltsam geschützt – oder errungen – werden wollen. Täter erringen Ergebnisse geistiger Arbeit, Opfer verlieren Ergebnisse geistiger Arbeit. Jedes Opfer ist ein Täter, jeder Täter ein Opfer. Denn die Ergebnisse geistiger Arbeit sind keine Fahrräder, in deren Besitz sich Diebe bringen, indem sie sie den Vorbesitzern wegnehmen. Es sind Gedanken, Ideen, Zeichen, Zeichenketten, Bedeutungen, Informationen. Die Ergebnisse geistiger Arbeit sind beliebig duplizierbar, fast völlig kostenlos reproduzierbar, in der digitalen Welt ihrem Wesen nach nichts anderes als ihre eigenen Kopien:

„Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ war nur ein lascher Vorgeschmack. In Form von Nullen und Einsen sind Gedanken fast völlig befreit von jeder materiellen Grundlage, nur noch elektrische Zustände, Daten. Auch der Unterschied zwischen Ergebnissen geistiger Arbeit und maschinell erstellten Kombinationen von Nullen und Einsen ist undeutlich geworden. Ist das Ergebnis eines maschinellen Vorgangs das Ergebnis geistiger Arbeit des Maschinenbauers? Wem gehört die Datenbank, wem das zufallsgenerierte Gedicht?

Es besteht eine Dialektik zwischen Tätern und Opfern. Niemand kann geistig arbeiten, ohne sich die geistige Arbeit anderer anzueignen. Doch geistige Arbeit ist von existentieller Bedeutung für geistige Arbeiter. Und für Eigentümer. Und für alle, die damit zusammenhängen. Für alle. Das macht Angst. Existenzangst. Doch Angst ist ein schlechter Ratgeber. So lautet das Sprichwort in England. In Deutschland heißt es: Angst macht den Alten laufen.[1] Und tatsächlich: Angst bringt die Verhältnisse zum Tanzen. (Wer diesen Satz widerrechtlich wiederholt, wird automatisch abgemahnt.)

Bunter Beispielreigen

Einige aktuelle Beispiele für die Angst, die Opfer und die Täter im Kampf um die Verteilung des Wertes geistiger Arbeit:

  • Wolfgang Michal: Angstfrei zitieren. In: Carta.info, 15. Oktober 2013 – Buchautoren, Buchverlage, Buchhändler, Presseautoren, Presseverlage und der ganze Rattenschwanz streiten darum (Fortsetzung), wer wem was dafür zahlen muss, Werbung mit einem Reich-Ranicki-Diktum oder irgendeiner anderen Sprechblase der Literaturkritik zu machen. Die ausgiebige Diskussion zeigt: Vorhang zu, alle Fragen offen. (Wessen geistige Arbeit enteignet das nun?)
  • hinterwald: und gleich noch ein bisschen reklame. In: hinterwaldwelt, 15. Oktober 2013 – Hardy zeigt derweil, dass Literaturkritik nicht mehr auf Presse angewiesen ist, weil die authentischeren Rezensenten ohnehin begeisterte Leser sind (hier von Malte Herwig: Die Flakhelfer. Wie aus Hitlers jüngsten Parteimitgliedern Deutschlands führende Demokraten wurden. München 2013). Wert produziert er, aber keine Mehrwertsteuer – so hält er’s auch in seinem neuen Verschenkprojekt für Kulturprodukte.
  • Frederic Hanusch, Claus Leggewie: Angeblicher Plagiatsfall Steinmeier. Rufmord darf sich nicht lohnen. In: FAZ.net, 9. Oktober 2013 – Die Experten fürchten „eine hasenfüßige Generation von Promovenden“, eine „Akzentverschiebung hin zur perfekten Zitation“, ohne dass „inhaltlicher Mehrwert“ produziert würde. Sie fordern, „wissenschaftliches Arbeiten wieder auf die Schaffung originellen Mehrwerts“ zu konzentrieren. Ohne Mehrwert keine Eigentümer; Kamenz als Täter, Steinmeier als Opfer. Studierende in „Angst vor dem ‚versehentlichen Plagiat'“.[2]
  • Stephan Leibfried: Angeblicher Plagiatsfall Steinmeier [Titel plagiiert von Hanusch/Leggewie?]. In diesem Fall gehört der Ankläger auf die Anklagebank. In: FAZ.net, 16. Oktober 2013 – Auch der Bremer Wohlfahrtsstaats-Professor Leibfried hat Angst und tauscht Täter- und Opferposition aus, um die Legitimität der einen Tat zu bestreiten. Kamenz handele „um des kommerziellen Vorteils willen“, dabei würden „aber die guten Namen vieler redlicher Autorinnen und Autoren vorsätzlich verbrannt.“ Er sieht eine „jakobinisch-kommerzielle Phase“ mitsamt „Kettenreaktionen“ aufziehen, man könnte also sagen die unvermeidliche Revolution in der Verteilung der Erträge geistiger Arbeit. Das kann natürlich, wie Leibfried vor einem Jahr zum Fall Schavan sagte, zu „Ausdrucksarmut“ führen.[3]
  • Ilja Braun: Gericht kritisiert Verteilungspraxis der VG WORT. In: Carta.info, 17. Oktober 2013 – Das OLG München bestätigt, dass den Autoren die Erträge ihrer geistigen Arbeit zustehen, nicht den Verlagen. Die Verwertungsgesellschaft Wort diente bisher mehr den Verlegern (älterer Überblick über den langwierigen Verteilungskonflikt).
  • Joachim Müller-Jung: Interview mit Nobelpreisträger Südhof. „Das war natürlich ein Schock“. In: FAZ.net, 17. Oktober 2013 – Medizin-Nobelpreisträger Thomas Südhof beschreibt eine Wissenschaftskrise auf Basis der Verwertungsprobleme von Publikationen: „Trotzdem sind wir zurzeit vielleicht in einer schlechteren Lage als je zuvor. Man kann einfach generell sagen, dass unser Wissenschaftssystem nicht in einem wirklich guten Zustand ist. Es wird nicht mehr genügend unterschieden, was gute und schlechte Forschung ist.“
  • Kevin Smith: The big picture about peer-review. In: Scholarly Communications @ Duke, 10. Oktober 2013 – Smith kritisiert die „harten“ Orientierungspunkte der Wissenschaftsevaluation, Impact Factor und Peer-Review, als Marketing-Gags. Er empfiehlt, das Augenmerk auf den wissenschaftlichen Produktionsprozess zu legen, und sieht Open Peer-Review in der Konsequenz von Open Access als künftigen Königsweg. Ohne prekäre Arbeitsbedingungen wäre das keine schlechte Idee.
  • Simone G.: Bandsalat: Kleine Bitte an Dissertationsdiktatoren. In: Causa Schavan, 16. Oktober 2013 – Die geistige Arbeit von Frank-Walter Steinmeier fand wohl nicht am Schreibtisch statt, sondern am Diktiergerät. Kein Grund, die Lehrstuhlsekretärin zur Täterin zu machen, die einfach die Anführungszeichen weggelassen habe, denkt wohl Simone. Aber wer zahlte da eigentlich wem was für welche Arbeit? Wurde Steinmeiers Dissertation seinerzeit auf Staatskosten geschrieben, oder hat sich Frau Pfeffer eine Nebentätigkeit genehmigen lassen?

Wer bekommt was? Die Frage der Verteilungsgerechtigkeit ist aufgeworfen, die Verteilungskämpfe sind voll entbrannt. Wie wär’s damit, die konkreten Antworten im Einzelfall stärker als Teile des Gesamtkonflikts anzusehen, denn als gute oder schlechte Argumente zur Behandlung eines Minimalkonflikts? Opfer- und Täterrollen sind beliebig besetzbar, wenn man nur das gespielte Stück richtig auswählt. Dann versieht man die Figuren noch mit den rollengerechten Attributen, und schon ist für neue Unterhaltung gesorgt, die sich auch prima ins Weltbild einfügt.

Leistung, Schöpfung, Profit, Diebstahl, Aneignung, Ausbeutung – wirtschaftlich geht es immer im die Position im Verteilungskampf. Symbolisch wird aufgewertet und entwertet, gestärkt und gestrichen, was geistige Arbeit wert sein soll. Die Angst spielt immer mit, produziert Opfer und Täter, wo eigentlich nur Spieler sind. Aber ein vernünftiger Spieler spielt nicht, wenn es um die schiere Existenz geht.

tl;dr: Die Verteilung der Früchte geistiger Arbeit ist umstritten. Die konkreten Streitigkeiten lassen sich leicht zu beliebigen Skandal- und Untergangsgeschichten verarbeiten. Das lenkt jedoch vor allem von der strukturellen Verteilungsfrage ab.

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6 Antworten zu “Die Angst, die Opfer und die Täter

  1. Nur zur Ergänzung: Das Beißen, Schubsen und Hauen ist deswegen so heftig geworden, weil der finanzielle Wert, der sich mit bestimmten Formen geistiger Arbeit effektiv auf dem Markt realisieren lässt, gesunken ist. Musik und Journalismus sind wohl die größten Verlierersparten.
    Dabei war der klassische Tagesjournalismus noch nie kostendeckend zu erledigen, aber trotzdem einträglich, weil man relevante Trägermedien für die Werbung anbot. Es ist jetzt ein ganz neuer Zustand, dass die Werbung nicht etwa nur von Print nach Online abgewandert ist, sondern ganz andere Media nutzt als die journalistischen Formate … den Seriösesten beißen die Hunde.

  2. Danke, ich weiß, was du meinst. Aber so ganz passt es ja nicht. Unternehmen haben auf Basis geistiger Arbeit Gewinne erzielt, und geistige Arbeiter haben Lohn erhalten, mit dem man sogar mal eine Familie ernähren konnte. Woher die Einnahmen kamen, ist dabei ja erstmal zu vernachlässigen.
    Ich sehe die Ursachen der prekären Lage eher darin, dass geistige Arbeit nicht mehr von einer 1%-Elite gemacht wird, die von einer 99%-Masse (oder der Werbung für eine 99%-Masse) finanziert wird, so dass für die Elite immer genug zum Verteilen da ist. Im Bereich Wissenschaft/Plagiate fällt es leicht, die Kämpfe auf die Massenuniversität zu schieben.
    Um das ökonomisch zu untersuchen, müsste man sich von der klassischen Einteilung in Agrar-, Industrie- und Dienstleistungssektor emanzipieren und fragen, wer eigentlich geistige Arbeit macht, und wie sich der Anteil der geistigen Arbeiter entwickelt hat.

  3. „Wo man um Rohstoffe kämpft, ist das 21. Jahrhundert noch nicht angekommen“, ist paternalistisch. Gleichzeitig mit solchen Diskussionen werden in Asien, Afrika, Lateinamerika Rohstoffe geraubt undadurch Dutzende von Millionen von Menschen ermordet.

  4. Rohstoffraub in Entwicklungsländern ist nicht gerade ein Phänomen des 21. Jahrhunderts. Ich finde es nicht paternalistisch, verschiedene Verteilungskämpfe voneinander zu unterscheiden, und auch nicht, die Brisanz des einen Verteilungskampfs hier und heute und morgen hervorzuheben.

  5. Pingback: Angstfrei zitieren | Carta

  6. Es hat sich gar nichts verändert, die Früchte werden heute nur anders verteilt. Es wurde schon immer abgeschrieben. Die Verteilung findet zur Zeit aufgrund irgendwelcher, der Allgemeinheit unbekannten Algorithmen statt, durch Ratingagenturen des Internets, träge wie jedes finanziell erfolgreiche System. Ein einmal erlangtes Rating erhält sich praktisch durch vielfaches Überkreuzreferenzieren mit Nachbarn auf gleichem Level von selbst. Gelegentliches Einstreuen eigener Gedanken und Aggregieren von Informationen von außerhalb dieser Kreise, möglichst ohne und wenn unvermeidbar ohne algorithmisch verwertbare Quellenangabe tun das Übrige. Mich bewegt dabei weniger die Angst der Täter und Opfer vor mangelner Teilhabe am Gewinn, sondern eher die Angst vor Verlust an wirklicher Information – zumindest wenn man auf den engeren Kreis der hier vermutlich gemeinten Täter und Opfer einschränkt. Gerade wenn kommerziell relevante Bereiche betrachtet werden, handelt es sich heute oft nur noch um Unterhaltung, weniger geistige Arbeit, als zeitgemäßes Marketing. Die Opfer haben wahrscheinlich noch die finanziellen Mittel, ziehen wahrscheinlich irgendwann erfolgreich nach, passen ihr Marketing an und ändern wird sich insgesamt wenig.

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