Er twitterte seit dem 8. November 2013, 18:30 Uhr, für 24 Stunden – quasi live aus dem Bürgerbräukeller in München, nur 90 Jahre später:
Das Experiment #Hitlerputsch beginnt gleich mit Tweets zur Vorgeschichte. Von 20 Uhr bis morgen Mittag läuft es dann zeitlich etwa parallel.
— Erbloggtes (@Erbloggtes) 8. November 2013
Noch sind die über 75 Tweets zum Thema gut hier nachlesbar, werden dort jedoch mit der Zeit nach unten – aus dem Blick, aus dem Gedächtnis? – rücken. Etwas persistenter sind die Kurznachrichten über den Hashtag #Hitlerputsch. Jedenfalls wurde unter dieser Rubrik zwischen dem 89. Jahrestag und dem 90. Jahrestag heute kaum getwittert. Da nicht alle Tweets mit diesem Hashtag versehen sind, verpasst man dabei zwar etwas, bekommt aber auch die sonstige Thematisierung auf Twitter mit.
Dabei ist vor allem die Süddeutsche Zeitung präsent, in der 1. der notorische Hans Mommsen den Putschversuch „ziemlich dilettantisch“ nennt, und 2. die 1932 friedlich verstorbene bayerische Politikerin Ellen Ammann als „Vergessene Widerstandskämpferin“ gegen den Nationalsozialismus dargestellt wird, weil sie am Abend des 8. November 1923 die Landesregierung ebenso friedlich dabei unterstützte, den Putsch abzuwenden. Beides sind extreme Deutungen, die durch „Versagen“ und „Verdienst“ Einzelner die Geschichte auf einen einfachen Nenner und damit letztlich zum Verschwinden bringen.
Aber auch nicht-deutschsprachige Twitter-Nutzer greifen das Thema auf und machen dabei deutlich, dass als Benennung der Ereignisse vom 8. und 9. November 1923 im Ausland etwas anderes als der Name des später berühmtesten Organisators üblich ist: Beer Hall Putsch/Munich Putsch, putsch de la Brasserie/putsch de Munich oder Putsch de Múnich/Putsch de la Cervecería geben einen kleinen Eindruck.
Geschichtsschreibung im Twitter-Format
Hier lassen sich noch einige Eindrücke über Twitter als Format für Geschichtsschreibung festhalten. Inspirierend wirkte – nachdem es ähnliche Experimente schon seit einiger Zeit gibt – vor allem der Account @9nov38, auf dem fünf ambitionierte Nachwuchshistoriker die antisemitischen Novemberpogrome 1938 sozialmedial reaktualisieren. Die von einem Blog begleitete Aktion, die durch die um 75 Jahre zeitversetzte, dann aber zeitlich einigermaßen ablaufgetreue Präsentation die Lebendigkeit eines Reenactments erhält – und durch die gleichartige mediale Vermittlung mit aktuellem „wirklichem Geschehen“ (das ja auf Twitter ebenfalls stets in 140 Zeichen gepresst „stattfindet“) seine Authentizität beglaubigt, wird zurecht sehr positiv rezipiert, zuletzt im ARD-Nachtmagazin am 9. November 2013 (Minute 15:02-17:32).
Man könnte Lebendigkeit und Authentizität, die ja beide bloß vorgetäuscht werden, als unwissenschaftlich abwerten. Historische Strukturen und Prozesse verschwinden, wenn sehr konkrete Ereignisse, konkrete Personen und zeitgenössische Quellen ins Scheinwerferlicht rücken und in Tweets atomisiert präsentiert werden. Die Geschichtsschreibung hält es sich als eine ihrer größten Errungenschaften zugute, heute erzählende und analysierende Historik zu betreiben, und nicht mehr der Annalistik anzuhängen: In den annales pontificum maximorum ritzte der altrömische Oberpriester die wichtigsten Ereignisse in Holztafeln und dokumentierte damit die erlebte Zeit streng chronologisch und meist in kurzen Hauptsätzen für die Nachwelt.
Zweieinhalbtausend Jahre altes Holztwittern sozusagen. Doch allzu weit davon entfernt ist moderne Geschichtsschreibung auch nicht – merkt man bei der Zustammenstellung solcher Ereignischronologien, wie sie für Twitter naheliegend sind. Als Hauptquellen des Hitlerputsch-Experiments musste herhalten, was gerade zur Hand war:
- Ian Kershaw: Hitler. Vol. I: 1889-1936: Hubris. Penguin, London 2001 [zuerst 1998].
- Robert Gellately: Lenin, Stalin und Hitler: Drei Diktatoren, die Europa in den Abgrund führten. Lübbe, Bergisch Gladbach 2009 [zuerst 2007].
- Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Bd. 4: Vom Beginn des Ersten Weltkriegs bis zur Gründung der beiden deutschen Staaten: 1914-1949. Beck, München 2003.
- Walter Ziegler: Hitlerputsch, 8./9. November 1923. In: Historisches Lexikon Bayerns, 29. Juli 2013.
- Artikel Hitlerputsch. In: Wikipedia, Stand: 4. November 2013, 12:00 Uhr (und weitere Wikipedia-Artikel).
Die Verarbeitung der in diesen Texten erwähnten Ereignisfragmente zu Textfragmenten in Form von Tweets zeigt, wie sie alle von einer vorgestellten Kette von Ereignissen ausgehen, die in der Geschichtsschreibung nachgeformt werden soll. Selbst Wehler kommt da ins Erzählen. Gellately ist eng an Kershaw orientiert, ebenso der Wikipedia-Artikel (ohne dass Kershaw erwähnt wird). Ziegler und Wehler sind da eigenständiger. Doch stets werden atomisierte Ereignisse als feststehender Rohstoff begriffen, der korrekt in Worte zu fassen ist (wofür es nur begrenzte Variationen gibt), und der anschließend frei gedeutet werden könne (was auf Twitter besser wegfällt).
Zuletzt noch ein Hinweis auf eine – offene? – Forschungsfrage, wie sie bei der Vorbereitung einer solchen Aktion aufkommen kann: Üblicherweise wird von 4 toten Polizisten und 16 toten Putschisten gesprochen. Erstere Anzahl findet sich etwa auf einer Gedenktafel vor Ort, die am 9. November 2010 enthüllt wurde. Letztere Anzahl wurde wohl in der Zeit des Nationalsozialismus dort auf Gedenktafeln für die „Blutzeugen der Bewegung“ etabliert. Sie geht wohl auf die Liste dieser NS-„Märtyrer“ zurück, denen Hitler sein in der Festungshaft geschriebenes Buch „Mein Kampf“ widmete (Namensliste). Walter Ziegler schreibt hingegen: „15 Kampfbündler, 1 unbeteiligter Zivilist und 4 Polizisten starben.“ Da zwei „Kampfbündler“ bereits im Kampf um das Wehrkreiskommando gefallen waren, können demnach nur 13 Putschisten an der Feldherrnhalle ums Leben gekommen sein. Nun die Frage: Wer war der unbeteiligte Zivilist, und warum sollte man ihn zu den Putschisten zählen oder eben nicht?
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erblogger,
was ist „notorisch“ an hans mommsen? ich habe den hitler putsch 23 bislang auch immer als ziemlich dilletantisch wahrgenommen, da liegt er doch sooo schief nicht, oder verstehe ich dich da miß?
zu den quellen, die du da oben nennst, wäre ja auch noch Maser, Werner: Die Frühgeschichte der NSDAP hinzuzufügen und die lektüre von rudolf freiherr von sebottendorf’s „bevor hitler kam“ als „insiderbericht“ von der „anderen seite“ ist sicher auch nicht uninteressant, der das ganze von seiten der thule schildert. die offensichtlich genau an diesem putsch „zerbrach“.
ich weiss aber nicht so recht, ob twitter da die richtige art ist, mit solchen themen umzugehen, eine „bloggeralliance“, die sich solchen themen mit beiträgen widmen würde, fände ich irgendwie angemessener.
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Mit notorisch meine ich, dass er ständig als Chefdeuter der Zeitgeschichte 1918-45 herangezogen wird, da auch überall präsent ist. Autoritativ erklärt er, wie die Geschichte zu betrachten sei. Vor 50 Jahren hätte die SZ mal ein Interview mit ihm zum selben Thema machen sollen. Aber damals hat man lieber 50 Jahre ältere Historiker gefragt.
History-Live-Tweeting hat beeindruckende Miterlebens-Effekte, mit denen man auch Leute erreicht, die Geschichte schon in der Schule abgelehnt haben. Die große „Kontextualisierung“ geht da natürlich nicht. Aber die überlässt man dann eben dem Mommsen. 😉
ah, okay, kann ich mit leben. das problem mit alten, erfahrenen historikern ist ja, daß sie alt – und das gute, daß sie erfahren sind 😉
schlimm wird das aber nur, wenn sie auf einer grundsätzlich falschen einschätzung der ereignisse beharren, weil sie mal „bewiesen“ haben, daß dies oder jenes „so oder so“ war – und sie eigentlich nur ihre eigene rechthaberei verteidigen. da tue ich mir mir mommsen so schwer nicht, es gab gerade in den 50ern noch welche, die selbst tief verstrickt, alles zu vermiden suchten, was ihre eigene rolle ans licht hätte zeren können. der reichstagsbrand zb. und die art, wie alte nazis im spiegel damals ihre sicht durchdrückten, wäre so ein beispiel.
zur not hätte man ja immer noch wehler, demandt, jaeckel. fischer und haffner können wir ja nicht mehr fragen, aber ich würde sie trotzdem zu rate ziehen, nachdem ich mir mit maser einen übrblick verschafft habe. und mit wolfgang benz sind wir doch so schlecht mit jüngeren nicht „versorgt“. mommsen ist ja nur _einer_ und wahrheit ist immer das ergebnis von vielen stimmen.
und: auch d’accord mit deinem „mitlebens-effekt“. ich „funktioniere“ halt nicht so, mir ist der lange text allemal lieber als 140 zeichen, aber da ich mich selbst ja mittlerweile auf tumblr rumtreibe und nur bilder und musik poste, will ich mal nicht so tun, als sei das ausufernde das non plus ultra.
es geht wirklich darum, jüngere zu erreichen und wenn du das so einschätzt (du hast in einer woche so viel tweets wie ich in einem jahr), verlasse ich mich einfach mal auf deine kompetenz.
ich denke aber weiterhin, daß man solche projekte durchaus auch als gemeinschaftsunternehmungen von bloggern anpacken könnte. bloggen muss sich ja nicht in „ich habe das und das gelesen und so ist meine meinung dazu“ reduzieren.
Hast du gerade Wolfgang Benz, *1941, als jüngeren Historiker bezeichnet? Das würde ihn bestimmt freuen. 🙂
Nach meinem Eindruck wächst bei Historikern die Autorität immer weiter. Dass das in anderen Fächern ebenso (stark) ist, kann ich mir kaum vorstellen. Es gibt inzwischen immerhin Ansätze von Kritik. Wie Mommsen z.B. 1962 seine Meinung zum Reichstagsbrand durchsetzte, wurde schon mal kritisch kommentiert, siehe Wikipedia. 😉
Schau dir @9nov38 mal an, das ist ja von Blogs begleitet: Das Hauptblog (Link oben), und die Blogs der Beteiligten sind involviert. Den Erfolg macht aber die Resonanz über das recht begrenzte Biotop der Blogosphäre hinaus aus (siehe dort im Blog unter Reaktionen).
ist der schon soooo alt? ich höre ja immer nur seine stimme im dlf und er ist mir halt erst vor ein paar jahren aufgefallen. aber tatsächlich: 15 jahre älter als ich, sprich steinalt 😉
ansonsten bin ich ja immer dankbar für korrkturen meines gedächtnisses, ich gucke nicht vorher bei wiki nach und so geht mommsen bei mir als der weise alte vom berg durch. ich hätte wirklich geschichte zuende studieren sollen, dann wüsste ich das alles besser.
angucken werde ich aber erst morgen, heute flitscht mir die zeit zwischen den fingern durch, bis dahin danke für den tipp.
kleiner nachtrag zu benz: witzig, daß er, der doch normalerweise den mord an den juden (zurecht) für nicht vergleichbar hält, bei passender gelegenheit genau dies tut, wie hier, wenn er einen film bewertet 😉
ich habe mich ja schon oft gefragt, warum ich ihm je zur hälfte energisch zustimme oder genau so energisch widerspreche: das ist manchmal wahrscheinlich einfach der altersstarrsinn …
danke also auch hier für’s augenöffnen 😉