Erreichte solch eine spezifische Debatte wie die Bongartz-Dammann-Kontroverse, die neulich in den Kommentarspalten von Archivalia über Verfahrensfragen in Sachen wissenschaftliches Fehlverhalten ausgetragen wurde, selten ein breiteres Publikum, so bietet die zusammenfassende Darstellung und Bewertung der Diskussion, die Klaus Graf jüngst vorgelegt hat, eine willkommene Gelegenheit, um mit weiteren Gedanken an die Problemstellung anzuknüpfen:
Ausgehend vom Fall Eumann und der zugehörigen Betriebsstörung an der TU Dortmund, bei der die Fragwürdigkeit des universitären Umgangs mit dem Verdacht wissenschaftlichen Fehlverhaltens einhellig gesehen wird, stritten RA Bongartz und Dr. Dammann vor allem über den Fall Steinmeier und die Legitimität des Vorgehens der Universität Gießen in dieser Sache.
Dogmen der Diskutanten
Klaus Graf nun blickte sehr interessant mit einiger Distanz auf den scharf ausgetragenen Zwist zurück und konnte ideologische Verblendungen auf beiden Seiten ausmachen: RA Bongartz glaubt demnach an ordentliche behördliche und gerichtliche Verfahren, Dr. Dammann hingegen an die wirksame Selbstkontrolle der Wissenschaft. Doch noch mehr Glaubenssätze werden offenbar: Klaus Graf glaubt, dass mehrere Augen mehr sehen als zwei, und dass Externität und Sachkenntnis Befangenheit verhindern. VroniPlagger glauben, es könnte in diesem Zusammenhang so etwas wie „Wahrheit“ geben.[1]
Nun könnte man sagen, alle diese Positionen machten sich bloß etwas vor, denn es ist ja offensichtlich, dass das alles in der Praxis nicht gegeben ist. Das wird jedoch der Bedeutung dieser Dogmen nicht gerecht: Alle obigen Glaubenssätze haben den Charakter einer „nützlichen Illusion“ (eine Formel aufgreifend, mit der Willensfreiheit häufig beschrieben wird, die wir ebenfalls nicht sehen können, aber trotzdem unterstellen). Sie sind insofern notwendig falsches Bewusstsein, als sie in der jeweiligen sozialen Position die Bedingung dafür sind, mit dem Problem Wissenschaftsbetrug umgehen zu können. Aufgrund seiner jeweiligen Bewältigungsstrategie verteidigt jeder Debattenteilnehmer, indem er von solchen Grundüberzeugungen ausgeht, seine soziale Position und die dort erforderlichen Glaubenssätze als legitim. (Das gilt natürlich auch für Erbloggtes: Dem regelmäßigen Leser mag etwa aufgefallen sein, dass hier wissenschaftliches Fehlverhalten häufig durch Begriffe wie „Wissenschaftsbetrug“ rhetorisch kriminalisiert wird, um das Phänomen nicht als allgemein üblich ansehen und darüber verzweifeln zu müssen.)
Das Problem, von dem man ausgehen muss, dürfte der Verlust der Bindungswirkung von Wissenschaft sein, der nicht neu ist, sondern symbolisch vielleicht 99 Jahre alt genannt werden kann. Heute ist weithin klar, dass nicht alles (oder alles nicht) stimmt, was die Wissenschaft sagt. Wissenschaftsbetrug stellt dabei nur einen zusätzlichen Aspekt dar, aber als die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) 1998 mit der Erfindung „guter wissenschaftlicher Praxis“ reagierte, war das Ziel, die Verbindlichkeit der Wissenschaft durch Schlichtung von Dissens zu schützen. Wenn sich „die Wissenschaft“ einig sei, müsse „das Volk“ sie weiter als verbindlich anerkennen (und folglich „der Staat“ sie finanzieren). Das war schon 1998 die nützliche Illusion epigonaler Mandarine.
Vom Zynismus ungläubiger Mandarine
Besonders gut taugt das Schavan-Verfahren als Beispiel: Die zuständige Stelle entscheidet nach sorgfältiger Prüfung und reiflicher Überlegung in einem substanziell unbeanstandeten Verfahren. Doch für zahlreiche große Männer, die sich auch gern mal als „die Wissenschaft selbst“ bezeichnen, besitzt dieses Ergebnis keinerlei Verbindlichkeit. Sogar der Deutsche Hochschulverband (DHV) muss sich einschalten und die Zelebrierung dieser Unverbindlichkeit geißeln, als Schavan weitere akademische Ehrenämter aufgedrängt werden.
Die Granden der Wissenschaft glauben offenbar selbst nicht mehr daran, dass Wissenschaftler etwas verbindlich feststellen können, indem sie es sorgfältig untersuchen und aus verschiedenen Perspektiven kritisch betrachten, bevor sie zu einer Entscheidung gelangen, selbst wenn diese im Konsens fällt. Was ihnen zum Bestreiten dieser Entscheidung ausreicht, ist die bloße Beteuerung, dass es sich nicht so verhalte, von der Person, die ihnen jahrelang großzügig Taschengeld gab. Es gibt einige Versuche, die Öffentlichkeit für eine Seite zu gewinnen – etwa mit „Gutachten“ in den Zeitungen mit bildungsbürgerlichem Anspruch.
Auch das unerlaubte Nach-Außen-Dringen des Sachstandes Mitte Oktober 2012 ist als ein solcher Versuch anzusehen, die Öffentlichkeit für eine Position einzunehmen. Zu den zentralen Problemen solcher Bemühungen gehört jedoch, dass Öffentlichkeit im Verwaltungsverfahren rechtlich als weitgehend unzulässig gilt – und daher durch die Bemühungen der Schavanisten eine einseitige Repräsentanz der verfahrenserheblichen Informationen in der Öffentlichkeit unvermeidlich ist. Doch nach anfänglichem Zaudern weiß sich die Universität Düsseldorf schließlich nicht mehr anders zu helfen als durch eine offensive Informationspolitik, die in dem einmaligen Angebot kulminiert, nach Schavans Zustimmung die Akten offen zu legen – was diese natürlich ablehnt.
Transparenz als Ausweg
Die Argumente, die für die im Verfahren unterlegene Position sprechen, werden unsichtbar. Das ist ein Problem, denn leicht lassen sich allerlei Szenarien konstruieren, in denen völlig illegitime Gründe eine Entscheidung bedingt haben: Was, wenn es eine Verschwörung gab? Hinweise darauf lassen sich immer finden, wenn man nur gut genug sucht. Die Nichtöffentlichkeit des Verfahrens soll die Persönlichkeitsrechte der Betroffenen schützen (und hat darüber hinaus historische Wurzeln in der Arkanbürokratie). Sie wird jedoch zur Waffe der Dissenter – gerade bei Plagiatsverfahren – weil beliebige Theorien konstruiert werden können, die sich deshalb nicht widerlegen lassen, weil die Unterlagen geheim sind.
Verfahren, die durch Geheimhaltung geschützt werden, verlieren derzeit ganz allgemein an Zustimmung. Transparenz, Informationsfreiheit, Leaks sind nicht umsonst entscheidende Signaturen der politischen Gegenwart. Geheime Herrschaftspraktiken werden zunehmend inakzeptabel, während die Fähigkeit, sich selbst zu informieren, durch Digitalisierung und Vernetzung ganz neue Ausmaße annimmt. Zurück zur Bongartz-Dammann-Kontroverse und zu den Glaubenssätzen, denen die verschiedenen Beteiligten verfallen sind:
Ordentliche behördliche und gerichtliche Verfahren, wirksame Selbstkontrolle der Wissenschaft, bessere Erkenntnisfähigkeit mehrerer Augen, Sachkundigkeit und Befangenheitsvermeidung – das alles sind doch bloß Bausteine einer Suche nach intersubjektiver Wahrheit. (Die Möglichkeit von Wahrheit per se als „Kindheitsglauben“ zu denunzieren, wie Klaus Graf es tut,[1] ist vielleicht selbst etwas zu naiv.) Ob diese Bausteine in einem konkreten Fall existieren oder nicht, daran lässt sich aber unter der Bedingung von Transparenz nicht mehr bloß glauben, sondern es lässt sich überprüfen. Auch wenn die Komplexitätsreduktion durch verbindliche Verfahrensergebnisse eine nützliche Errungenschaft ist, können Verfahren, an die unbesehen zu glauben sich als nützliche Illusion erweisen lässt, keine Akzeptanz mehr von jenen erwarten, für die eine solche Illusion (egal welche) eben nicht nützlich ist, sondern bloße Ideologie. Klaus Graf kommt zu dem richtigen Schluss:
„Solange aber die Öffentlichkeit nicht als entscheidender Partner bei Verfahrengestaltungen, bei denen es um wissenschaftliches Fehlverhalten oder Plagiate geht, einbezogen wird, wird es an der nötigen Akzeptanz fehlen.“[1]
Die Straße der Aufklärung führt zur Transparenz. Das gilt nicht nur, wie jüngst dargestellt, für Promotionsverfahren, sondern auch – vielleicht noch mehr – für Promotionsüberprüfungsverfahren. Das ist der Grundirrtum der Wissenschaftsorganisationen, die zur Verteidigung der gesellschaftlichen Stellung der Wissenschaft weiter auf Intransparenz und Schlichtung setzen, statt auf die Kernkompetenz von Wissenschaft: Überprüfbarkeit.
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