Jakob Augstein und die Fahnenflucht

Er repräsentiert es vielleicht wie kein anderer Pressefuzzi: Jakob Augstein ist das halblinke, halbkritische, halbintellektuelle, halbnationalistische, halbdämliche Ex-SPD-Basis-Deutschland. So ist die Fernsehsendung mit seinem halbrechten … und ganzBLÖDen Widerpart Blome konstruiert, so die Runde der SpIn-Kolumnisten designt, so positioniert sich auch das publizistisch-verlegerische Gesamtwerk Augsteins in der deutschen Öffentlichkeit. Darin kann man ohne weiteres auch den Grund dafür sehen, dass Augstein 2012 zum deutschen Antisemit des Jahres erklärt wurde: Kein Hetzer und Hassprediger, bloß typisch deutsch.

Ein liebenswertes Milieu

Die Person an sich ist nicht besonders wichtig. Aber sie drückt die Befindlichkeiten eines Milieus aus, das zwar politisch entmachtet ist, kulturell aber noch einigen Einfluss, zumindest aber eine gewichtige Stimme in öffentlichen Diskursen besitzt: Lehrer für Politik und Gesellschaftskunde, Mitarbeiter „linker“ Zeitungen und „kritischer“ öffentlich-rechtlicher Rundfunksendungen, manches Universitätspersonal, Alt-SPDler, Gewerkschafter, Kabarettpublikum – Leute, die wissen, dass die gesellschaftlichen Fortschritte von ’68 nicht von selbst kamen, dass sie heute in Gefahr sind, dass es vielleicht schon zu spät ist für eine Gesellschaft mit menschlichem Antlitz. Sie wissen auch, dass italienischer Rotwein und selbstgedrehte Zigaretten ohne Zusatzstoffe meist über diese Einsichten hinweghelfen.

Da nun Augstein – und mit ihm wohl das ganze Milieu – spürt, dass es nicht etwa die Regierung Netanjahu ist, die Deutschland „am Gängelband eines anschwellenden Kriegsgesangs“[1] führt, trauern sie gemeinsam, laut wehklagend, immerhin: „Nie wieder Krieg“ – und Scham über die gewählten und glücklich mit durchgerutschten Mächtigen der Bundesrepublik. Augstein und das Milieu stehen für die „Machtoption“ links von der Union. Aber ob es damit in der Kriegsfrage besser stünde?

Eine schöne Geschichte

Augstein erklärt in seiner jüngsten Kolumne die Kriegsablehnung, die in Deutschland so breite Mehrheiten findet wie sonst nur die Große Koalition, aus einer anrührenden biographischen Perspektive:

„Mein Vater hatte eine Narbe aus dem Krieg. Ein Granatsplitter hatte seinen Unterarm durchschlagen. Auf der Vorderseite war der Splitter in den Arm eingedrungen und auf der Rückseite ausgetreten. Als Kinder haben wir die Krater gesehen und erst viel später verstanden: Er hatte den linken Arm um einen Baum gelegt und dann die Granate gezündet. An der Ostfront war er schon. Er wollte nicht noch weiter. Mein Vater war ein mutiger Mann: Man hätte ihn für diese Tat erschießen können.“[2]

Eine faszinierende Geschichtskonstruktion, dienstbar gemacht zur Erklärung einer gegenwärtigen Präferenz. Und sowas von deutsch. Jakob Augstein erzählt sich den Vater. Er meint Rudolf Augstein. Martin Walser hingegen, der leibliche Vater, schrieb 1998:

„Manche haben gelernt, ihre Vergangenheit abzulehnen. Sie entwickeln eine Vergangenheit, die jetzt als günstiger gilt. Das tun sie um der Gegenwart willen. Man erfährt nur zu genau, welche Art Vergangenheit man gehabt haben soll, wenn man in der gerade herrschenden Gegenwart gut wegkommen will.“ (zit. nach Malte Herwig: Die Flakhelfer. München 2013)

Sehr klar griff Walser dieses Thema im selben Jahr in einem Gespräch mit seinem Freund Rudolf Augstein auf, in dem beide darum wetteifern, wer von ihnen der unsoldatischere Wehrmachtssoldat war:

„WALSER: Ich nicht! Ich wäre nicht Leutnant geworden, und wenn der Krieg tausend Jahre gedauert hätte. Zu mir hat der Kompanie-Chef nach der Grundausbildung gesagt: Wer nicht gehorchen kann, kann auch nicht befehlen. Ich hatte, ohne es zu wissen und zu wollen, bewiesen, daß ich nicht gehorchen kann. Das hieß: Sie können kein Offizier werden. Du, Rudolf, so wie du bist, wärst in den tausend Jahren General geworden. Bitte, vergiß das nicht.
AUGSTEIN: Was das Gehorchen angeht, so habe ich die mir automatisch zugestandene Stellung eines Kriegsoffiziersbewerbers offiziell und schriftlich abgelehnt, nachdem mein engster Freund bei einer Kasernenhof-Schinderei gestorben war. Sie sagten mir, der war doch nur herzkrank, das stimmte sogar. Eigentlich war ich immer Deserteur, wenn auch nicht richtig. Mein einziges Prinzip im Kriege war, mich nicht auf Kosten eines Kameraden zu drücken. Ich war immer auf der Suche nach meiner Einheit, und die suchte ich möglichst weit vorn, und dann konnte ich den Stab nie finden, weil der Stab erfahrungsgemäß nicht vorne ist. So ging es bis zum Ende des Krieges einschließlich eines Schrapnelldurchschusses. Die alten Splitter hätten mich vor einem Jahr beinahe den rechten Arm, wenn nicht das Leben gekostet.
WALSER: Rudolf, du bist wirklich der beste, schönste, liebenswürdigste, ungefährdetste Roman, der zu Herzen gehendste, den ich je gelesen habe. Das muß ich einfach sagen. Dagegen sind alle, die es bis jetzt probiert haben, Stümper. Nur eines ist sicher: Es ist ein Roman. Mit der Wirklichkeit kann es nichts zu tun haben. Einverstanden?
AUGSTEIN: Nein.
WALSER: Hältst du es für Wirklichkeit?
AUGSTEIN: Es ist erlebte Wirklichkeit, nicht geschönt.“[3]

Eine verfälschte Erinnerung

Die Variante, die Jakob Augstein nun erzählt, schließt genau an Rudolfs Satz „Eigentlich war ich immer Deserteur, wenn auch nicht richtig“ an. Selbstverstümmelung als Fahnenflucht – auch das heutige Wehrstrafgesetz sieht das noch so (§§ 16f.). 1998 qualifizierte Rudolf Augstein, Träger des silbernen Verwundetenabzeichens, den Schrapnelldurchschuss allerdings noch mit keiner Andeutung als selbstbeigebracht. Vielmehr bestritt er damals ausdrücklich, er könne sich „auf Kosten eines Kameraden zu drücken“ bestrebt gewesen sein.

Wie und wann genau Jakob Augstein „erst viel später verstanden“ hat, dass es da einen Akt der Desertion, im weiteren Sinne des Widerstands gegen Krieg und NS-Regime, in der Familie gab, das schreibt er nicht. Geschichte ist ihm gegenwärtige Gewissheit:

„Wir müssen nicht in Geschichtsbücher gucken, um zu wissen, dass General Sherman recht hatte, als er sagte: ‚Der Krieg ist die Hölle.‘ Er hatte im amerikanischen Bürgerkrieg die Stadt Atlanta niedergebrannt. Er wusste, wovon er sprach. Und wir wissen es, wenn wir uns erinnern.“[2]

Wenn die Erinnerung ihn da mal nicht trügt. Und wer war noch gleich dieses „wir“? Sein Väterland.

Ein vereinnahmtes Kollektivsubjekt

„Die Deutschen sind mit großer Mehrheit gegen die Kampfeinsätze der Bundeswehr. Sie haben besser verstanden als ihr im Gestern verhafteter Präsident und als ihr auf Aktionismus drängender Außenminister, dass die kulturellen Konflikte der Gegenwart mit Waffen nicht zu lösen sind.“[2]

Wirklich? „Wir“, „die Deutschen“, „erinnern uns“ an den Krieg, „die Hölle“, in der „wir“ alle eigentlich Deserteure und Widerständler waren? Deshalb gegen Kampfeinsätze der Bundeswehr? Und wo kämpft denn die Bundeswehr so? Das Hauptschlachtfeld sind also „die kulturellen Konflikte der Gegenwart“? Kampf der Kulturen also? Am Hindukusch den „Westen“ verteidigen gegen die orientalischen Ungläubigen? Das Abendland steht also kurz vor dem Untergang:

„Geld, Identität, Macht, alles steht dabei auf dem Spiel.“[2]

„Unser“ Geld, „unsere“ Identität, „unsere“ Macht? „Nichts bedroht unsere Sicherheit gegenwärtig mehr“.[2] Na klar. Aber es ist, da ist Augstein dann doch „Im Zweifel links“, gar nicht der Taliban, der „unsere Sicherheit“ maximal bedroht, sondern „der Verlust an Autonomie über unsere Daten: Geld, Identität, Macht, alles steht dabei auf dem Spiel.“[2] Deutlicher gesagt: Die USA nehmen der BRD ihre schöne Souveränität weg, indem sie „uns“ bespitzeln, ausspähen und zur Eingabe der Kreditkartennummer auffordern. Was folgt daraus?

Eine alberne Alternative

Deutschland möge nicht, wie die Kriegstreiber von der Regierung das vorhaben, deutsche Soldaten in alle Welt schicken, um dort mal ordentlich für „Sicherheit“ zu sorgen. Augstein träumt vielmehr von „deutschem Isolationismus“[2], den es viel zu wenig gebe.

Die Grenzen dicht, das Internet geschlossen.
NSA spioniert, da machen wir nicht mit.
Unsre Soldaten schützen unsre Daten.
Und singen Humba Humba Täterätätä.

Augsteins spottprovozierende Analysesimulationen sind für sich genommen nicht so schlimm. Darf ja jeder sagen, was er denkt. Aber wenn man sie ernst nimmt und für den Ausdruck eines ganzen Milieus hält, dann mag es einem angst und bange werden. Auslandseinsätze ablehnen, aber den nationalen Verteidigungszustand ausrufen. „Geld, Identität, Macht“ in Gefahr sehen, aber die „hohe beschäftigungspolitische Bedeutung“ der jüngsten Waffenexporte blöd finden.

„Das Schlimmste ist die Heuchelei.“[2]

PS: Historische Ironie oder Kontinuität, dass Jakob Augstein 60 Jahre nach Rudolf Augstein als publizistisches Flaggschiff einer „nationalen Orientierung“ fungiert und aus dieser Warte die an den westlichen Bündnispartnern orientierte konservative Regierung kritisiert?

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6 Antworten zu “Jakob Augstein und die Fahnenflucht

  1. Was wäre deine alternative, wenn du augstein wärst?

  2. Wenn ich Augstein wäre, würde ich natürlich genauso denken wie er. Da ich es nicht bin, gehe ich davon aus, dass die BRD keine Verteidigungsarmee benötigt, und eine Außenpolitik um „Geld, Identität, Macht“ schon gar nicht. Wer etwas gegen Gräuel tun will, sollte die UNO stärken und nicht selbst seine Gräuel-Kompetenz vorführen.

  3. schade, daß du männlichen geschlechts bist, werter erblogger, sonst hätte ich mich jetzt zu einem „küss die hand, gnä‘ frau!“ hinreissen lassen: chapeau!

    ich gestehe: ich lese weder regelmäßig den freitag noch den spiegel, aber auch für „die flakhelfer“ trommele ich seit mehr als einem halben jahr. leider geht ja die (für mich) eigentliche grunderkenntnis des buches immer verschütt: eine wahrheitskommission – oder doch deren grundidee – hätte uns weitergebracht als dieses ewige tribunal-spiel, in dem wir alle mal die guten sein dürfen … und nichts verstehen lernen.

    [..] die NATO stärken

    ist das mein „militär als polizei“?

    dann sind wir uns ja näher als ich zwei posts früher dachte.

    das problem mit der NATO: dummerweise hat uns dubya ja vorexerziert, wie sich dieses instrument missbrauchen läßt und diesen immer-noch-chef der nato möchte ich ja schon mal gar nicht als meinen „vertreter“ beauftragen, situationen zu klären, der ist nämlich all das, was wir hier befürchten, wenn wir das überhandnehmen und vor allem schiefgehen von solchen einsätzen reden: der mann ist schlicht servil nach oben und kriegsgeil nach unten.

    wenn du meine gauck-verteidigungspost von annu dazumals bei mir zuhause gelesen hast, ist dr vielleicht aufgefallen, daß ich da eine vielleicht absurd wirkende frage aufwerfe: „und was ist, wenn der russe nun doch kommt?“ nein, ich hänge nicht dem gerade mal wieder virulenten udssr-bashing an, in dem der pöse putin mal wieder den watschnfänger spielen darf. die frage ist so „serlös“ wie mein „ich befürchte das israels raketen mal in eine andere als von uns unterstellte richtung fliegen könnte – nämlich in unsere“, einfach nur das gedankenexperiment, das die realität für weniger stabil hält als wir ihr das so gemeinhin unterstellen.

    in diesem sinne sehe ich die bundeswehr so lange existent, bis es die bundesrepublik europa gibt und die über eine eigene truppe verfügt.

    eine NATO, deren häuptling jedem alert in jedes noch so feuchte loch kriecht, so lange er krieg „spielen“ darf, jedenfalls ist keine alternative.

    was du allerdings über augstein sagst, ist meinem kenntnis- und wahrnehmungsstand zufolge, ein volltreffer. das ist genau das milieu, das ich schon im jugoslawien und irak v1 für verachtenswert hielt …

  4. okay, wie das so ist des nächtens.

    also komplette übereinstimmung????

  5. und, in sachen bundeswehr, hänge ich mal gerade einen kleinen pod von gestern an, den ich für bemerkenswert halte:

    [audio src="http://ondemand-mp3.dradio.de/file/dradio/2014/02/07/drk_20140207_1813_2b688543.mp3" /]

    die umbenennung einer deutschen kaserne auf den namen des gründers des reichsbundes jüdischer frontsoldaten leo löwenstein. ich höre mit vergnügen förmlich das rotieren einiger nazis in ihren gräbern 😉

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