Ist das nun Kinderpornographie?

Erregt es oder erregt es nicht, ist das nun die Frage? Nach der großen Kinderporno-Reform des Strafgesetzbuches („Lex Edathy“) ist seit dem 27. Januar 2015 verboten und mit Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren bedroht, eine „Schrift“ (d.h. ein Medium) zu verbreiten oder der Öffentlichkeit zugänglich zu machen, die zum Gegenstand hat:

„b) die Wiedergabe eines ganz oder teilweise unbekleideten Kindes in unnatürlich geschlechtsbetonter Körperhaltung oder
c) die sexuell aufreizende Wiedergabe der unbekleideten Genitalien oder des unbekleideten Gesäßes eines Kindes“ (§ 184b StGB)

Unter a) sind weiterhin natürlich auch Schriften mit sexuellen Handlungen von, an oder vor Kindern strafbar. Bislang zu wenig Beachtung fand, dass die Gesetzesänderung an eine neue Definition des Begriffs Kinderpornographie anschließt, die bis vor wenigen Jahren unbekannt war und deren Verbindung mit dem neu gefassten § 184b StGB weitreichende Auswirkungen haben dürfte, die heute noch nicht absehbar sind.

Das Landgericht Verden hat sich mit der Verfahrenseinstellung im Fall Edathy wohl auch vor den Auslegungsproblemen weggeduckt, die die Entgrenzung des Kinderporno-Begriffs mit sich bringt.

Die Geburt der Jugendpornographie aus dem Geiste des Internet

Früher meinte die Rechtsprechung, dass Pornographie notwendigerweise sexuelle Vorgänge aufdringlich in den Vordergrund rücke und insgesamt überwiegend zum Zwecke der sexuellen Stimulation gestaltet sei. Alles andere fiel nicht unter Pornographie. Und daher fiel es, wenn Kinder vorkamen, nicht unter Kinderpornographie.[1] Als 2008 Jugendpornographie ins Strafgesetzbuch eingeführt wurde, nahm sich der Gesetzgeber wohl vor allem Fickvideos im Internet vor: Die geschilderten Bedingungen, um ein Werk als Pornographie zu klassifizieren, traten hinter dem Eindruck zurück, dass ja spätestens seit dem Start von YouPorn 2006 jede/r vor der Kamera ficken und das ins Internet hochladen könnte. Daher ging es im neuen StGB-Paragraphen 184c (Jugendpornographie) besonders um „tatsächliches Geschehen“, also um Jugendliche zwischen 14 und 18 Jahren, die Sex haben. Absatz 4 bestimmte (abweichend vom Kinderporno-Paragraphen 184b):

„Wer es unternimmt, sich den Besitz von jugendpornographischen Schriften zu verschaffen, die ein tatsächliches Geschehen wiedergeben, oder wer solche Schriften besitzt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft. Satz 1 ist nicht anzuwenden auf Handlungen von Personen in Bezug auf solche jugendpornographischen Schriften, die sie im Alter von unter achtzehn Jahren mit Einwilligung der dargestellten Personen hergestellt haben.“ (§ 184c (4) StGB in der ab dem 05.11.2008 geltenden Fassung)

Das vorgesehene Szenario war also, dass sich 16-Jährige beim Sex oder bei der Selbstbefriedigung filmen. Seit der Etablierung des Smartphones durch Apple 2007 war das kinderleicht. Auch wenn man wohl nicht damit argumentieren können würde, dass solche verwackelten Filmchen überwiegend zum Zwecke der sexuellen Stimulation gestaltet seien, wollte man sicher gehen, dass die Gerichte nicht von jugendlichen Exhibitionisten arbeitsunfähig gemacht würden. Das Problem, das durch eine Erlaubnis einvernehmlicher selbstproduzierter Jugendpornographie gelöst wurde, entstand erst aus der Annahme, dass Pornographie schon dann vorliege, wenn man Teile von nackten Leuten bei sexuellen Aktivitäten mit der Handykamera filmt.

Diese Verzerrung des Pornographie-Begriffs kam dem Problem entgegen, dass dokumentierter sexueller Missbrauch von Kindern auch dann als Kinderpornographie verstanden wird, wenn die Kriterien für Pornographie (sexuelle Vorgänge aufdringlich in den Vordergrund gerückt, insgesamt überwiegend zum Zwecke der sexuellen Stimulation gestaltet) gar nicht erfüllt sind: Es sind gewiss Dokumentationen eines tatsächlichen Missbrauchsgeschehens vorstellbar, in dem nichtmal Geschlechtsteile im Bild sind. Die überwiegende Gestaltung zum Zwecke der sexuellen Stimulation ist dann kein geeignetes Kriterium mehr, weil der Kinderpornographiekonsument ja als Perverser konzeptualisiert wird: Wer kann schon sagen, was für den Perversen den Zweck der sexuellen Stimulation erfüllt?

Kinderpornographie muss nicht pornographisch sein

Als der Bundesgerichtshof (BGH) im Februar 2014 erstmals mit einer entsprechenden Frage befasst war, entschied er, dass jede irgendwie sexuelle Darstellung im Zusammenhang mit Kindern kinderpornographisch sein könne, dafür müsse man nicht ihren „vergröbernd-reißerischen Charakter“ feststellen.

„Zur Begründung führte er aus, dass die richterliche Definition von Pornografie auf die Degradierung der Dargestellten als austauschbar und von ihren persönlichen und sozialen Bezügen getrennt abstelle. Diese Degradierung sei aber bei sexuellen Darstellungen und Handlungen an, mit und vor Kindern immer gegeben. Daher seien keine weiteren vergröbernden Merkmale erforderlich. Das Urteil stieß in ersten Reaktionen auf Kritik der Rechtswissenschaft.“[1]

Die Argumentation des BGH setzte bei der Definition von Pornographie an und lautete in seinen eigenen Worten (aus dem Urteil vom 11. Februar 2014, Quellenverweise ausgelassen):

„‚Pornographie‘ ist die Vermittlung sexueller Inhalte, die ausschließlich oder überwiegend auf die Erregung eines sexuellen Reizes beim Betrachter abzielt und dabei die im Einklang mit allgemeinen gesellschaftlichen Wertvorstellungen gezogenen Grenzen des sexuellen Anstandes überschreitet[…]. Nach heutigem Verständnis bestimmt sich die im Einzelfall schwer zu bestimmende Grenze nach der Wahrung der sexuellen Selbstbestimmung des Einzelnen[…]; pornographisch ist demgemäß die Darstellung entpersönlichter sexueller Verhaltensweisen, die die geschlechtliche Betätigung von personalen und sozialen Sinnbezügen trennt und den Menschen zum bloßen – auswechselbaren – Objekt geschlechtlicher Begierde oder Betätigung macht[…]. [Rn. 49]
Eine derartig degradierende Wirkung wohnt der Darstellung sexueller Handlungen von, an und vor Kindern jedoch in aller Regel inne. Von Fallgestaltungen abgesehen, in denen es der Darstellung am pornographischen Charakter schon deshalb fehlt, weil sie nicht überwiegend auf die Erregung sexueller Reize abzielt […] – z.B. bei der Abbildung der Genitalien hierzu ‚posierender‘ Kinder in medizinischen Lehrbüchern –, sind realitiätsbezogene Darstellungen sexueller Handlungen von, an oder vor Kindern daher regelmäßig auch ‚pornographisch‘ i.S.v. § 184b Abs. 1 StGB. Eines darüber hinausgehenden ‚vergröbernd-reißerischen‘ Charakters der Darstellung bedarf es demgegenüber nicht. [Rn. 50]“

Der BGH argumentiert, der Begriff „pornographisch“ bedeute in § 184 und § 184a StGB (Pornographie, Gewalt- und Tierpornographie) etwas ganz anderes als in § 184b und 184c StGB (Kinder- und Jugendpornographie). Denn der Schutzzweck sei anders: Zum Konsumentenschutz (vor unerwünschter Konfrontation mit Pornographie) komme der Kinderschutz hinzu, der dadurch verwirklicht werden solle, dass mit den Verboten von Kinderpornographie „potenziellen Tätern kein Anreiz zu sexuellen Missbrauchstaten gewährt werden“ (Rn. 57) soll.

„Schon nach dem Maßstab des Konsumentenschutzes bedarf es bei der Darstellung sexueller Handlungen von, an und vor Kindern keines vergröbernd-reißerischen Charakters. Denn deren Degradierung zum Objekt fremder sexueller Begierde ergibt sich allein daraus, dass ihnen eine selbstbestimmte Mitwirkung an sexuellen Handlungen per se nicht möglich ist […]. [Rn. 58]
Vor allem aber spricht die Verknüpfung mit dem Schutzzweck der §§ 176 ff. StGB gegen eine Restriktion des Tatbestands am Maßstab des für §§ 184, 184a StGB entwickelten [herkömmlichen] Pornographie-Begriffs. Der Gesetzgeber hat einen umfassenden Schutz von Kindern vor sexuellem Missbrauch angestrebt. Die Ausdehnung dieses Schutzes auf die Fälle mittelbarer Förderung in § 184b StGB lässt sich daher nur umsetzen, wenn es für die Begründung der Strafbarkeit nicht noch der vergröbernd-reißerischen Darstellung bedarf. [Rn. 59]“

Gesinnung des Konsumenten entscheidet Charakter des Werks?

Die Argumentation ist fragwürdig. Eine Ausnahme vom generell kinderpornographischen Charakter nackt posierender Kinder sieht der BGH etwa, wie zitiert, wenn „es der Darstellung am pornographischen Charakter schon deshalb fehlt, weil sie nicht überwiegend auf die Erregung sexueller Reize abzielt“ – am Beispiel medizinischer Lehrbücher. Dazu können Kinder aber ebensowenig wirksam einwilligen wie zu Nacktfotos am Strand, Filmdrehs zweifelhafter Produktionsgesellschaften oder gar zur „selbstbestimmte[n] Mitwirkung an sexuellen Handlungen“ – weshalb die „Degradierung zum Objekt fremder sexueller Begierde“ sich bei Kindern schon dann ergibt, wenn sie zum Objekt fremder sexueller Begierde werden. Damit ist per BGH-Definition jedes Medium eine kinderpornographische Schrift, das a) Kinder zum Gegenstand hat und b) diese zum „Objekt fremder sexueller Begierde“ werden lässt. Anders gesagt, ist all das Kinderpornographie, was Pädophile scharf macht.

Wenn ein Pädophiler also ein medizinisches Lehrbuch mit genitalen Nacktfotos besitzt, das er zur sexuellen Stimulation benutzt, handelt es sich demnach um den Besitz kinderpornographischer Schriften nach § 184b (3), also droht Freiheitsstrafe bis drei Jahre oder Geldstrafe. Ein Mediziner kann sich womöglich auf Absatz 5 (Erlaubnis bei beruflichen Pflichten) berufen, wenn er glaubhaft machen kann, dass er beim Besitz der Schrift „nicht überwiegend auf die Erregung sexueller Reize abzielt“, sondern überwiegend auf seinen Job. Auch „Die Blechtrommel“ steht auf sehr wackligen Füßen, wenn nun der Charakter des Betrachters entscheidend dafür sein soll, ob ein Werk kinderpornographisch ist oder nicht: „In drei kurzen Szenen beteiligt sich der Hauptdarsteller dieses körperlich ein Kind gebliebenen, aber geistig erwachsenen Menschen an simulierten sexuellen Handlungen bzw. beobachtet sie.“[2] 1998 urteilte ein US-Bundesrichter in Oklahoma, die Verfilmung falle nicht unter das Kinderporno-Verbot:

„Die Gesetze des Bundesstaates würden zwar Material verbieten, in dem sich Minderjährige sexuell betätigen, so der Richter, davon aber jene Materialien ausnehmen, welche ‚(1) nicht vorwiegend auf Erregung sexueller Gelüste ausgerichtet, und (2) echte Kunstwerke sind.‘ Der Bundesrichter kam daher im Gegensatz zu den Behörden zu dem Schluß, daß der Film nicht gegen die Gesetze verstoße.“[2]

Unter den Voraussetzungen des BGH hätte die christlich-fundamentalistischen Gruppe „Oklahomans for Children and Families“, die mit Kinderporno-Vorwürfen zuvor Beschlagnahmungen des Films ausgelöst hatte, nur argumentieren müssen, Pädophile würden die beschlagnahmten Filmkopien in Videotheken, öffentlichen Bibliotheken und privaten Beständen zur Stimulation nutzen, die Darstellung ziele also überwiegend auf die Erregung sexueller Reize ab.

Erst diese problematische Entwicklung ließ es im Fall Edathy als von entscheidender Bedeutung erscheinen (zumindest für die Öffentlichkeit – das Gericht ist solchen Fragen ja ausgewichen), ob der Angeklagte pädophil sei, und was er konkret mit den von ihm besessenen Schriften angefangen habe. Edathy hingegen konnte sich sicher sein, dass ein herkömmlicher Pornographiebegriff auf die von ihm gesehenen Medien keinesfalls zutraf.

Entgrenzung durch Lex Edathy

Aber die Gesetzesentwicklung ist ja nicht beim BGH im Februar 2014 stehengeblieben. Die „Lex Edathy“ genannte Strafrechts-Novelle kam ja erst noch. Wie eingangs erwähnt, ist damit nun auch die „Wiedergabe eines ganz oder teilweise unbekleideten Kindes in unnatürlich geschlechtsbetonter Körperhaltung“ und „die sexuell aufreizende Wiedergabe der unbekleideten Genitalien oder des unbekleideten Gesäßes eines Kindes“ Kinderpornographie, sofern es von Pädophilen zur sexuellen Stimulation benutzt wird (oder werden könnte?).

Denn das Kind (oder sein Bild?) würde ja zweifellos in diesem Moment eine „Degradierung zum Objekt fremder sexueller Begierde“ erfahren. Ironischerweise ist dieser Aspekt der Objektifizierung von Kindern (weil sie kein Subjekt im rechtlichen Sinne sein können) auch genau das, was Kinderpornographie im Volksmund nachgesagt wird: Der gängige Satz „Kinderpornographie ist Missbrauch“ bezieht sich ja nicht nur auf die Produktionsumstände klassischen kinderpornographischen Materials (als Dokumentation sexuellen Missbrauchs). Wäre das der Fall, dann wäre gegen den Besitz von Beweismitteln über Fälle sexuellen Missbrauchs nichts einzuwenden. Der Satz bezieht sich aber auch auf die Rezeptionsumstände von Kinderpornographie, also grob gesagt auf die Frage, ob jemand („der Pädophile“) dazu wichst.

Das muss verhindert werden, und zwar, wie der BGH schrieb, schon „nach dem Maßstab des Konsumentenschutzes“, offenbar weil die Richter Kinder (für Pädophile? oder allgemein?) so geil finden, dass es zur Erfüllung der Pornographiedefinition dabei „keines vergröbernd-reißerischen Charakters“ bedarf. „Denn deren Degradierung zum Objekt fremder sexueller Begierde ergibt sich allein daraus, dass ihnen eine selbstbestimmte Mitwirkung an sexuellen Handlungen per se nicht möglich ist“ (obiges Urteil, Rn. 58).

Der unbequeme Fischer

Insofern kann man es vielleicht sogar als Kritik an den Kollegen vom 1. Strafsenat des BGH verstehen, die obige Argumentation entwickelten, wenn „Der unbequeme Richter“ Thomas Fischer, selbst Vorsitzender des 2. Strafsenats des BGH und damit eher für West- als für Süddeutschland zuständig, zum unrühmlichen Ende des Falls Edathy schreibt:

„Die außer Rand und Band geratene Verfolgungswut bei Sexualdelikten steht in krassem Widerspruch zu der Tatsache, dass es sich dabei vor allem um Massendelikte handelt und unmöglich jeder Konsument ‚grenzwertiger‘ Pornografie (von der ’normalen‘ ganz zu schweigen) oder anderer bagatellhafter Sexualdelikte zum potenziellen Schwerverbrecher erklärt werden kann, der aus dem öffentlichen Leben zu entfernen ist.“[3]

Denn die geschilderte, 2008-2015 erfolgte Entgrenzung des Kinderpornographiebegriffs bedeutet im Umkehrschluss, dass Kinder allgemein zum potentiellen Objekt sexueller Lust erklärt werden, und zwar zu einem so vorzüglichen Objekt, dass nichtmal die reißerisch-vergröbernde Darstellung erforderlich ist, um nackte Kinderhaut zu erotisieren: Sie sei schon an sich pornographisch. Demnach ist sie auch in jedem Fall „sexuell aufreizend“, wie im neuen § 184b gefordert. Daher ist Fischers inquisitorische Strategie so erfolgversprechend:

„Wäre ich Inquisitor auf der Suche nach dem nächsten vom Teufel der Wollust Besessenen – ich wüsste, bei wem ich mit der Folter anfinge: bei denen, die am lautesten über Edathys ‚Buben‘ und die süßen 14-Jährigen wehklagen. Die würden vor mir kriechen und heulen und alle ihre Bilder und Fantasien zugeben und um Vergebung dafür bitten.“[3]

An wen der verhinderte Inquisitor wohl dabei denkt? Degradiert er gar die Kollegen vom 1. Strafsenat zu Objekten seiner sarkastischen Verfolgungswut? Die laute und tatkräftige Empörung, der sich im Fall Edathy nicht nur der Mob an allen seinen Versammlungsorten befleißigte, sondern auch, von Ausnahmen abgesehen, die Presse, die Politik, und – besonders schwerwiegend – die Justiz, ist diese Empörung nicht vor allem dem Bedürfnis  geschuldet, sich selbst möglichst deutlich abzugrenzen von „dem Kinderschänder“, um den es jeweils geht? Und warum wäre diese lärmende Abgrenzung nötig, wenn die sich Abgrenzenden nicht insgeheim fürchteten, in dieselbe Kategorie zu fallen – und das nicht anders widerlegen zu können als durch symbolische Teufelsaustreibung?

Thomas Fischer, dessen Zeit-Kolumne „Fischer im Recht“ regelmäßig sehr lesenswert ist, hat sich nicht erst in seiner oben zitierten neuesten Ausgabe „Geständnis für 5000 Euro“ kritisch und vollumfänglich lesenswert mit der Edathy-Affäre auseinandergesetzt, sondern das auch schon vor einem Jahr mit „Bitte entschuldigen Sie, Herr Edathy“ getan. Die behandelten Themen hat er auch früher schon auf den Punkt gebracht, so dass das Porträt Fischers anlässlich des Streits um seine Ernennung zum Vorsitzenden des 2. Strafsenats 2011 ihn zitieren kann:

„Zum Beispiel befremde ihn eine Gesellschaft, die ihre Kinder hemmungslos mit sexuellen Reizen überflute und sich gleichzeitig vorgenommen habe, »Kinderseelen zu retten« und sexuelle Übergriffe gegen Minderjährige »mit Stumpf und Stiel auszurotten«. Schon in den meisten Modejournalen finde sich »ein unverhülltes Kokettieren mit der Überwindung kindlicher Träume durch erwachsene Sexualität«, sagt Fischer in das vor ihm aufgebaute Mikrofon. Das sei unehrlich, widersprüchlich »und natürlich auch widerlich«. […] Oder: »Alle verfolgen einträchtig den Kinderschänder – das stiftet einen Gemeinsinn, den es in unserer Gesellschaft schon lange nicht mehr gibt.«“

Fischer sieht das Strafrecht und seinen gesellschaftlichen Kontext, und er kritisiert regelmäßig, wie Menschen juristisch zu Tätern oder Opfern erklärt werden, und wie ihnen durch diese Rollenzuweisung die Möglichkeit genommen wird, eigenverantwortlich, frei, oder überhaupt: zu handeln.

Kinderpornographie im Betrachterkopf?

Nach diesen unangenehmen Überlegungen erscheinen im Folgenden noch Dokumente zum gesellschaftlichen Kontext der gegenwärtigen Kinderpornomanie: Durch Entnahme einer Seite eines Frauenmagazins von 1950 aus der DDR und ihrem Transfer aus dieser fremdartigen Gesellschaft in den aktuellen Zusammenhang soll deutlich werden, was in einer prüden Gesellschaft als völlig akzeptabler Umgang mit nackten Kindern gelten kann, und wie dies sich durch Neukontextualisierung in Kinderpornographie verwandeln lässt:

aus: Die Frau von heute, 1950

aus: Die Frau von heute. Organ des demokratischen Frauenbundes Deutschland, 1950

Der oben diskutierte rechtliche Rahmen erlaubt den Besitz oder gar die Verbreitung derartiger Schriften womöglich nicht. Daher die Erklärung: Eine Serverbeschlagnahmung oder Hausdurchsuchung ist zwecklos, da das Material hier nur in der abgebildeten Form vorliegt und jemals vorlag. Was wirklich an den ausgeblendeten Stellen zu sehen ist, muss entweder der schmutzigen Phantasie des Betrachters überlassen bleiben, oder lässt sich in gut sortierten Zeitschriftenarchiven nachprüfen. Aber Vorsicht: Auch dabei könnte es sich um eine Straftat handeln.

„Empörend“ ist ebenfalls, wie schamlos die aufreizend-zurschaustellende Objektifizierung der womöglich abgebildeten Kinder durch die begleitenden Gedichte erfolgt, die in Inhalt und Metaphorik eindeutig zweideutig zu interpretieren sind und damit die böse Phantasie selbst entlarven.

Ist es eigentlich auch verboten, Fotos nackter Kinder zu machen, die Kinder rauszuretuschieren und das dann zur sexuellen Stimulation an Pädophile zu verteilen? Oder ist das schon Kunst?

Zum Abschluss ein Video, betitelt „Sexualkundeunterricht 2015”, in dem es darum geht, wie der Sexualkundeunterricht, der im vorigen Jahr extensiver Skandalisierung durch selbsternannte Kinderschützer ausgesetzt war, in der Praxis wohl oftmals wirklich (nicht) aussieht:

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9 Antworten zu “Ist das nun Kinderpornographie?

  1. wieder mal mit vergnügen gelesen, auch wenn’s noch dauert, bis ich wirklich jeden kleinen „move“ intus hab‘. danke, werde ich die tage sicher noch ein-, zweimal lesen …

  2. Gruslig, das Ganze – Fischer hat ja so recht!
    Was sich mir aber trotz der ausführlichen juristischen Zitierungen und Argumente nicht vermittelt: Warum soll es nur darauf ankommen, ob jemand das Bildmaterial zu Erregungszwecken nutzt? Du schreibst doch selbst:

    “ Eine Ausnahme vom generell kinderpornographischen Charakter nackt posierender Kinder sieht der BGH etwa, wie zitiert, wenn “es der Darstellung am pornographischen Charakter schon deshalb fehlt, weil sie nicht überwiegend auf die Erregung sexueller Reize abzielt” – am Beispiel medizinischer Lehrbücher. “

    Das ist doch mal ein Wort, das auf vielerlei Bilder Anwendung finden kann. Hier wird klar gesagt, dass es auf die Absicht der Darstellung (bei der Herstellung) der Bilder ankommt, nicht auf eine evtl, spätere Nutzung.

    Die Fortsetzung ist mit unverständlich, in der du schreibst:

    „Dazu können Kinder aber ebensowenig wirksam einwilligen wie zu Nacktfotos am Strand, Filmdrehs zweifelhafter Produktionsgesellschaften oder gar zur “selbstbestimmte[n] Mitwirkung an sexuellen Handlungen” – weshalb die “Degradierung zum Objekt fremder sexueller Begierde” sich bei Kindern schon dann ergibt, wenn sie zum Objekt fremder sexueller Begierde werden.“
    Woher nimmst du das?

    „Damit ist per BGH-Definition jedes Medium eine kinderpornographische Schrift, das a) Kinder zum Gegenstand hat und b) diese zum “Objekt fremder sexueller Begierde” werden lässt. Anders gesagt, ist all das Kinderpornographie, was Pädophile scharf macht.““

    Eben NICHT, siehe oben die vom BGH gemachte Ausnahme.

    Egal wie: Man wird in der Praxis wohl insgesamt nicht mit dem Blick des Perversen urteilen, sondern doch vornehmlich danach, was auf dem Bild zu sehen ist und wie geil oder nicht geil ein Mensch mit durchschnittlicher Sexualität das empfindet.

    Jedes andere Vorgehen würde die heutige Mode-., Model-. und Popkultur massiv kriminalisieren, die gerade Kinder immer deutlicher als Objekte erotischen Begehrens inszeniert – als Beispiel für viele hier ein ganz gewiss legales Foto des „schönsten Mädchens der Welt“, nämlich der 9-jährigen Kristina:

    http://thecount.com/2014/11/29/kristina-pimenova-photos/kristina-pimenova-7/

  3. Bei mir steht die erste und einzige Blind-Faith-Platte im Schrank. Kann mich eine Selbstanzeige noch retten?

  4. Fledermausland

    Und was ist mit dem Cover von Nirvanas Nevermind? Muss ich nach Südafrika auswandern?

  5. Danke für eure Beiträge! Es ist ein schwieriges Thema, aber bei Selbstanzeige sollte man mit Verfahrenseinstellung bei Geldauflage davonkommen – und zwar auch dann, wenn man gar nichts Illegales gemacht hat: Denn wer würde diese Frage schon in öffentlicher Gerichtsverhandlung klären lassen wollen, wenn auch nur die theoretische Chance besteht, als Kinderpornograph verurteilt zu werden?

    In diesem Sinne bitte ich auch die Argumentationsschwächen zu verstehen, die du aufgezeigt hast, Claudia! Es erscheint mir nämlich nicht schon vorher klar zu sein, dass ein edel gebundener Bildband mit Goldschnitt und Abbildungen nackter Jungen oder Mädchen von einem Gericht als „nicht überwiegend auf die Erregung sexueller Reize“ abzielend und als „Kunst“ klassifiziert wird. Denn die frühere Grenze zwischen Kunst (soll zu Gedanken anregen) und Pornographie (soll zu geilen Gedanken anregen) wurde ja bzgl. Kinderpornographie für nichtig erklärt. Die Ausnahme für medizinische Lehrbücher ergibt sich nicht schlüssig aus der sonstigen Argumentation des BGH. Warum nicht? Der BGH argumentiert, dass Kinderabbildungen im Zusammenhang mit sexuellen Handlungen schon deshalb Pornographie sind, weil die Kinder nicht wirksam einwilligen können. (Das dürfte auch für Lehrbücher gelten: Auch zur Therapeutenausbildung darf man nach dem BGH-Urteil keine Missbrauchsdokumentation abbilden. Das ist jetzt nach Bildinhalt/entstehung argumentiert, nicht nach tatsächlicher Nutzung, und nicht nach beabsichtigter Nutzung.)
    Die Theorie, man würde vor Gericht die bei der Herstellung beabsichtigte Nutzung zugrundelegen, finde ich nicht überzeugend, auch wenn das Medizinbeispiel darauf hindeutet. Konstruieren wir den Fall von Ärzten vor vielen Jahrzehnten gemachter Filmaufnahmen. Da könnten Dinge drauf zu sehen sein, die ich weder beschreiben noch en Detail ausmalen will. Wie wird ein Gericht wohl urteilen, wenn die Filme auf einem Festival von einem Pornokino gezeigt werden? Wie urteilt das Gericht, wenn die Filme in einer Onlinetauschbörse für (und als) Kinderpornographie gehandelt werden?

    Auf den Kontext kommt es offenbar an. Das lässt sich vielleicht an der gegenwärtigen Ausstellung im „Zeitgeschichtlichen Forum Leipzig“ erläutern. Dort findet sich als Ausstellungsstück eine Doppelseite aus dem Zeitmagazin (seit 1970 Beilage zu „Die Zeit“), auf der in den 1970ern nackte Kinder zu sehen waren, offenbar auch Jungen bei der Manipulation ihrer Penisse. Aber das weiß man nicht so genau, denn das Zeitgeschichtliche Forum Leipzig (über das Haus der Geschichte quasi eine offizielle Geschichtsausstellung des Bundestages) hat die Magazinseite mit schwarzen Balken zensiert:
    http://www1.minpic.de/bild_anzeigen.php?id=232978&key=19335221&ende
    Ebenfalls im „Zeitgeschichtlichen Forum Leipzig“ hängt jenes Spiegel-Cover vom 23. Mai 1977, das man wohl ebenfalls als evtl. kinderpornographisch ansieht und deshalb auch mit einem schwarzen Balken verklebt hat, und zwar in der Leistengegend. Den Rest des nackten Mädchens habe ich zur Sicherheit schamhaft verdeckt (gelbe Markierung).
    http://www1.minpic.de/bild_anzeigen.php?id=232980&key=266234&ende
    Wie bei den diversen Musikalben kann man wohl davon ausgehen, dass der Spiegel nicht überwiegend zur sexuellen Erregung nackte Kinder zeigte, sondern in der Absicht der Provokation. Dennoch scheinen heute großflächige Überklebungen geboten, nur zur Sicherheit.

    Das Hauptproblem mit dem BGH-Urteil, um auf deine Einwände zurückzukommen, Claudia, ist aber: Es hat das Pornographiekriterium wegdefiniert aus dem § 184b. Erst NACH dem BGH-Urteil kam ja dann die Novelle, laut der nicht nur sexuelle Handlungen im Zshg. mit kindern, sondern auch
    „ganz oder teilweise unbekleideten Kindes in unnatürlich geschlechtsbetonter Körperhaltung oder
    c) die sexuell aufreizende Wiedergabe der unbekleideten Genitalien oder des unbekleideten Gesäßes eines Kindes“
    Kinderpornographie sind, und zwar unabhängig von der Frage, ob sie pornographisch sind oder nicht, also von der Frage, was die Absicht des Herstellers war.

  6. Danke für die Erläuterungen! Ist ja wirklich furchtbar, was sich da WOMÖGLICH dann alles als KiPo darstellen lässt. Und übrigend mutig von dir, das Theme so aufzunehmen!
    Dein Beispiel mit den Bildern von NS-Ärzten würde – so vermute ich – jedoch gar nicht als kinderpornografisch eingestuft (sofernnicht explizit sexuelle Handlungen gezeigt werden), sondern nach diesem ebenfalls neuen Gesetz behandelt, nachdem der Handel mit jeglichen Nacktbildern Minderjähriger verboten ist, Mit dem kann man die Definitions- und Abgrenzungsprobleme ja dann bequem umgehen.

    Es ist schier unglaublich, wie hysterisch die Gesellschaft sich derzeit entwickelt, beängstigend. Als in den 70gern Sozialisierte finde ich das ziemlich gruslig. Wenn ich dran denke, dass damals in fast jeder WG die Hamilton-Mädels hingen… Himmel, was waren wir verderbt! (Haare rauf…)

  7. Danke, finde das Thema auch sehr herausfordernd. Aber wer wenn nicht Anonyme sollte sich darüber Gedanken machen, die nicht mitten im Strom des Zeitgeistes schwimmen? Nur oberste Richter wie Fischer genießen sonst noch dieselbe Unabhängigkeit wie Anonyme. 😉

    Interessant, dass du gleich an NS-Ärzte denkst. In der Tat erlaubt das gewiss noch, die Grauensphantasien weiter zu steigern. Aber welches andere neue Gesetz („Handel mit jeglichen Nacktbildern Minderjähriger verboten“) meinst du denn da? Mir ist da nur http://www.gesetze-im-internet.de/stgb/__184b.html (Kinderpornographie) und http://www.gesetze-im-internet.de/stgb/__184c.html (Jugendpornographie) bekannt. Und „jegliche Nacktbilder“ scheint mir die knappste Zusammenfassung der in § 184b neu eingefügten Punkte zu sein, auch wenn da mit „unnatürlich geschlechtsbetonter Körperhaltung“ sowie „sexuell aufreizende“ noch Pseudo-Qualifizierungen drinstehen. Über diese Begriffe hatte ich mich ja neulich schon ausführlich gewundert.

  8. Danke, danke, danke. Diese Polemikkacke die dazu durchs Internet geistert regt mich schon lange auf.

  9. Gerald Fix

    Brooke Shields war 13, als sie „Pretty Babydrehte. Ich frage, mich, ob Verleiher oder Händler bei diesem Film schon mit einem Bein im Gefängnis stehen.

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