Erinnerte sich fortan in jedem Jahr die deutsche Bildungsbürger-Öffentlichkeit an die großen Tage des Fremdschämens, damals in der zweiten Februarhälfte 2011, als Minister noch wegen ihrer persönlichen Integrität Minister waren, und nicht wegen ihrer wissenschaftlichen Meriten? Diesmal, zum fünften Jahrestag, hat das ZDF in irgendeinem seiner Mikrozielgruppenkanäle die Doku „Der Fall Guttenberg“ ausgestrahlt. Gleich im ersten Satz präsentiert man die These, dass Guttenberg „so kometenhaft aufgestiegen war wie kein deutscher Politiker je zuvor“. Ausgenommen Hitler, aber der ist für das ZDF ja weiterhin Österreicher.
Und im selben Ton geht es weiter, denn Fernsehen ohne Superlative ist zwar möglich, aber sinnlos: „Der hellste Stern am Polithimmel erlischt – im kürzesten Skandal der deutschen Geschichte.“ Sowas kann man gar nicht erfinden. Das gibt’s nur in ihrem ZDF. (Und vielleicht noch ein paar Tage hier in der Mediathek.) Immerhin stellt die Jährung (gibt es eigentlich schon einen internationalen Tag des Plagiats?) auch einen willkommenen Anlass dar, sich zu besinnen und die eigene Position zu Plagiaten zu klären.
Vergebene Chancen
In diesem Jahr trat damit Thomas Kerstan hervor, seines Zeichens Leiter des Ressorts „Chancen“ im Wochenblatt „Die Zeit“. Insbesondere für die Berichterstattung von Kerstan, Martin Spiewak und Jan-Martin Wiarda erhielt „Die Zeit“ 2006 den „Medienpreis Bildung“ des „Aktionsrates Bildung“, weiß Wikipedia. Dieses „Expertengremium“ wollte 2006-2010 „die Arbeit von reformstarken Akteuren“ im Bildungsbereich würdigen, indem es journalistische „Impulssetzung“ in diesem Sinne auszeichnete. Der Aktionsrat hat nämlich „ein ganzheitliches Konzept für eine tief greifende Bildungsreform“, und ja, Nachhaltigkeit und ähnliche Buzzwörter kommen darin auch vor (lächerliche Zitate von der Homepage aktionsrat-bildung.de zusammengeklaubt). Also verlieh dieser Thinktank von Wissenschaftsfunktionären in jedem Jahr irgendeinem großen Medienhaus – ob öffentlich-rechtlich oder privat – seinen Medienpreis und (laut Wikipedia) 10.000 Euro.
Das könnte man nun für bildungspolitische Landschaftspflege halten, denn schließlich bedeutet „Impulssetzung“ in etwa, dass die „ausgezeichneten“ Medien die Umgestaltungsvorschläge der „Experten“ befürworteten, damit Bildungspolitiker die „öffentliche Meinung“ als Begründung für die Umsetzung solcher Reformen benutzen konnten. Initiator und Chef der Experten ist seit 2005 Dieter Lenzen, und oberste Bundesbildungspolitikerin war seit 2005 Annette Schavan. Die mochte ihre Experten immer gern, und umgekehrt, und so einige Journalisten mochte sie auch gern und umgekehrt (namentlich Martin Spiewak sticht hier ins Auge). Geld ist dabei auch geflossen, und zwar von Schavan an die Experten und – wie gesehen – von den Experten an die Journalisten, natürlich alles im Rahmen der ordnungsgemäßen Erfüllung ihrer dienstlichen Pflichten.
Chancenverwertung
Wie kam denn nun schon wieder so plötzlich Annette Schavan mit ins Spiel? Es ging doch eigentlich um Guttenberg und Plagiate… ach ja, Plagiate. Da weiß die Wikipedia zu berichten:
„Am 10. April 2013 wurde bekannt, dass das von Kerstan geleitete Zeit-Ressort Chancen umfänglich Inhalte des Blogs Beratersprech.de ohne Nennung der Quelle übernommen und damit als eigene ausgegeben hatte. Nachdem Medienportale über diese Urheberrechtsverletzung ausführlich berichtet hatten, rückte Kerstan in der Ausgabe vom 18. April 2013 eine kurze Entschuldigung ein.“[1] (weitere Belege dort)
Und Kerstan als ausgezeichneter Bildungsjournalist war ja, wie oben erwähnt, jüngst dazu berufen, auf die Plagiatsaffäre Guttenberg zurückzublicken. Das hat er dann auch getan, aber leider nicht mit besinnlichen Gedanken über Arbeitsweisen des zeitgenössischen Journalismus und sein daraus erwachsendes Verständnis für die Sorgen und Nöte promovierter Plagiatoren, sondern so:
- Thomas Kerstan: Die Zeitbombe von Hannover. Warum die Wissenschaft Politiker nicht zum Rücktritt zwingen darf. In: Die Zeit, 18. Februar 2016, S. 65.
Das ist ein mutiger Titel für eine Guttenberg-Retrospektive. Schließlich macht man sich seit fünf Jahren allgemein lächerlich, wenn man behauptet, Guttenberg hätte als oberster Dienstherr von Bundeswehr-Bildungseinrichtungen bis hin zu Universitäten im Amt bleiben können.
Seine Chancen nutzen
Diese wahnwitzige Position möchte Kerstan dann auch gar nicht verteidigen. Doch das führt ihn zu einer schicken kognitiven Dissonanz beim Thema des plagiatsbedingten Minister-Rücktritts:
„Doch damit muss jetzt Schluss sein, denn er lädt selbst ernannte Hüter der Wissenschaft[*] ein, demokratisch gewählte Politiker aus dem Amt zu kegeln.
Unvermeidlich war der Rücktritt des damaligen Verteidigungsministers Karl-Theodor zu Guttenberg. Allzu dreist hatte er ein Patchwork von Texten anderer Autoren als seine Leistung ausgegeben, und selbst im Abgang blieb er großspurig, wo Demut gefordert war.“* = in Kerstans Kopf schwirren zweifellos anonyme Plagiatsjäger umher, nicht etwa die von den Betroffenen mit der ‚Überprüfung der Vorwürfe‘ beauftragten und von Amts wegen zur Ermittlung solcher Sachverhalte verpflichteten Gremien
Die Grenzlinie zwischen unvermeidlichen und unverzüglich abzustellenden Rücktritten zieht Kerstan also anhand der Unterscheidung zwischen dreistem Betrug und Betrug, sowie zwischen anschließend demonstrierter Großspurigkeit und Demut. Man darf gespannt sein, und regelmäßige Leserinnen ahnen es schon, woran er diese Differenz festmachen will:
„Doch schon der Rücktritt Annette Schavans als Bundesbildungsministerin war tragisch. In einer höchst umstrittenen Entscheidung [umstritten vor allem unter Leuten wie Martin Spiewak] hatte die Universität Düsseldorf ihr den Doktortitel wegen angeblicher Täuschungsabsicht aberkannt. Andere, hoch angesehene Wissenschaftler [wie Dieter Lenzen] kritisierten das als ‚gravierende Fehleinschätzung‘. Schavans Doktorarbeit entspreche der damals üblichen Praxis.“
Sodann kramt Kerstan ausgiebig in der schavanistischen Materialkiste herum, die Spiewak irgendwo stehen gelassen haben muss. Willkür der Universität Düsseldorf, Verjährung, Ehre usw.
„Und man sollte nicht übertreiben: Ein Zitierfehler ist keine Falschaussage, eine vergessene Fußnote kein Plagiat.
Mit großem Aufwand 30 Jahre alte Doktorarbeiten nach heutigen Standards öffentlich zu sezieren, das sprengt jedes Maß. Die menschlichen und politischen Kollateralschäden sind enorm“.
Und vor allem die Schäden in der bildungspolitischen Landschaftspflege, so viele Gärtner kann man gar nicht einstellen, dass da nochmal jemand so pfleglich mit seinen Pflänzchen umgehen könnte wie Annette Schavan. Da sind sich ja bis heute alle Schavanisten einig. Und zu prüfen, ob renommierte Doktorinnen und Doktoren, Politikerinnen und Politiker gar, vielleicht mal betrogen und gelogen und die Leistungen anderer als eigene Leistungen ausgegeben haben (was in so einem Ministerium ja der Sinn des ganzen aufgeblähten Apparats ist), das ist doch im Kern nichts anderes als staats- und gesellschaftszersetzender Terrorismus. Oder was meint Terrorexperte Thomas Kerstan („Die Zeit“) dazu?
„In Hannover tickt eine Zeitbombe, die Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen zum Verhängnis werden könnte. Seit Monaten … ungewiss … tragisch … misslich … ausgeliefert … Souverän … souverän … sprengt … Kollateralschäden … enorm … gedient …“
Der Staatsschutz ermittelt. Denn so etwas darf nie wieder passieren.
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DIE ZEIT, 18.04.2013, Nr. 17, S. 87 / Chancen
Entschuldigung
In der ZEIT Nr. 14/13 haben wir im Chancen-Spezial über Wirtschaftsprüfer und Unternehmensberater drei Beratersprüche von der Website beratersprech.de übernommen, die von Thomas Hillenbrand betrieben wird. Leider haben wir es – entgegen unserer üblichen Praxis – versäumt, auf die Quelle hinzuweisen. Dafür entschuldigen wir uns in aller Form. STAN
Die Methode, Gefälligkeiten mit sogenannten „Medien-Preisen“ zu vergelten, muss ich mir unbedingt merken. Ist steuerlich absetzbar und die verruchte Tat wird sogar noch gesellschaftlich vorbildlich. Hoffentlich ist dieses Vorgehen nicht schon patentrechtlich geschützt?
Eine menschenfreundliche Definition dessen, was als sog. Plagiat angesehen werden könnte, verwoben mit Formulierungen, aus denen Worte wie Ehre, eidesstattliche Versicherung, kürzestmögliche Verjährung und unerschütterliche Kameradschaftlichkeit hervorstechen mögen, und wem das nicht reicht, die Faust auf den Tisch (am besten meine eigene, natürlich ohne das Bierglas vom Pult zu stoßen), dazu klare Ansagen wie „Jetzt ist aber mal Schluss, meine sehr geehrten Herrschaften!“ oder „Wir haben doch wahrlich andere Probleme!“ – und wir könnten unaufgeregt die Tagesordnung abarbeiten.
von Eichenbach
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