Griff nach der Westmacht

Erweist es sich als plausibel, dass in ein und demselben Zeitungsartikel konträre Perspektiven zum Ausdruck kommen? Wahrscheinlich muss man es als die große journalistische Kunst verstehen, dass Journalisten bloße Leinwände seien, auf die verschiedenene in einer Gesellschaft vertretene Perspektiven sich projizieren können – oder auch nicht. Je nachdem, wie eng sie vernetzwerkelt sind mit diesen Journalisten. Doch zur Projektion später mehr. Zuerst eine Skizze der „westlichen“ Außenpolitik von Bernd Ulrich, Politikchef von „Die Zeit“:

„Der Westen, mittlerweile sogar die Deutschen, liefern mehr oder weniger direkt Waffen an die bis vor Kurzem noch als Terrororganisation geltende kurdische PKK, um die Terroristen von IS zurückzudrängen. Wenn man die verantwortlichen deutschen Politiker fragt, wohin man die Islamisten denn zurückdränge, dann antworten sie kleinlaut: in den Nordosten Syriens – wo man dann hoffen muss, dass der noch vor einem Jahr als Hauptfeind definierte Baschar al-Assad, assistiert von einem gewissen Wladimir Putin, sie bekämpft. Und dieser Assad dient sich nun sogar als Partner des Westens an, IS zu bekämpfen.“

Voller Widersprüche ist nicht nur die Außenpolitik des Westens, mit dem Ulrich nicht nur sich, sondern auch seine Leser, mithin das ganze Land, vielleicht die ganze vernünftige Welt, vorbehaltlos identifiziert, wie der Titel „Neuausrichtung des Westens. Die Welt ist verrückt – und was machen wir?“ anzeigt. „Wir“ und „die“ – voller Widersprüche ist auch Ulrichs Identität. Dazu ein Beispiel aus jenem erratisch mäandernden Grundsatz(?)artikel, ergänzt um Kommentare, die vielleicht das Lektorat hätte machen sollen. Vielleicht hat das Lektorat sie auch gemacht, sie waren dem stellvertretenden Chefredakteur dann aber zu polemisch.

„Die Konflikte in Russland [In Russland? Gehört die Ukraine nun doch zu Russland?] und im Mittleren Osten lassen sich schließlich auch als Binnenkonflikte lesen, bei denen die USA und Europa Katalysatoren, Projektions- und Angriffsfläche sind, nicht aber die erste Ursache. [Kolonialistische Tradition: Die angeblichen Wilden haben Binnenkonflikte und brauchen zu ihrer Lösung die Kolonialisten. Die Kolonialisten sind daher für die Kolonialkonflikte nicht verantwortlich zu machen. Fehlt nur noch, den Wilden ihre falsche Religion vorzuhalten, von der sie zum wahren Glauben bekehrt werden müssten. Oh, da kommt’s ja schon!] Sowohl das orthodox geführte Russland als auch die islamisch geprägten Staaten haben ein Jahrhundertproblem mit der Globalisierung, die ihre Kultur relativiert und ihre Ökonomie bloßstellt, sie haben aber auch, auf ganz unterschiedliche Weise, ein Kardinalproblem mit der Säkularisierung, der fehlenden Trennung von Kirche und Staat oder von Glaube und Politik. [Möglicherweise relativiert die Globalisierung aber auch westliche Kultur und Ökonomie. Dann wäre natürlich die Frage, wer das Problem hat und es leugnet.] Opfermythos und heilige Mission – eigentlich religiöse Topoi und auch nur darin erträglich – werden politisiert und dadurch gewissermaßen scharf gemacht. [Schlimm, wie diese Wilden religiöse Topoi politisieren! Die USA hingegen, die sind da ganz anders. Und Europa? Nein, Kreuzzüge, was soll das sein?] Lösen lässt sich das nur durch innere Entwicklungen in Russland und in Arabien, die der Westen nicht erzwingen kann. [Immerhin, man kann’s nicht erzwingen. Aber der Westen könnte natürlich auch selbst innere Entwicklungen durchmachen und dadurch seine Probleme lösen. Aber nein, es sind immer die anderen. Die anderen Anderen.]
[… irgendwas über die Aggression Putins, der genauso rede wie jeder beliebige Islamist …] Sein moralisches und kulturelles Überlegenheitsgefühl ist nicht die Folge des Ukraine-Konflikts, eher eine seiner Ursachen. [Gemeint ist, das muss man vielleicht dazu sagen, Putins Überlegenheitsgefühl. Analog natürlich das der Islamisten, aber keinesfalls irgendein moralisches und kulturelles Überlegenheitsgefühl irgendwelcher westlicher Geopolitiker oder Zeitungsfritzen. Nein, die sind immer sehr getragen demütig.]
Russische und islamische Fundamentalisten fühlen sich vom Westen, so wie er heute ist, offenbar bis ins Mark provoziert. [Oder andersrum.] So schwul, so libertär, so säkular – und dabei nach wie vor ökonomisch so erfolgreich, das können sie nicht fassen. [Oder andersrum. Oder kann es irgendein Westler fassen, wie Putin und die Islamisten so machistisch, so autoritär, so fundamental – Ulrich spricht später von „übermännlichten, autoritären Gesellschaften“ – und dabei ökonomisch und politisch so erfolgreich sein können? Bei den Zustimmungswerten, die sie in ihrem Wahlvolk haben, kriegen die Führer der freien Welt doch Pipi in die Augen.] Die Vorstellung, dass die westlichen Gesellschaften nicht trotz ihrer Toleranz, ihrer Pluralität, ja ihrem ganzen verweichlichten Gehabe so erfolgreich sind, sondern eben deswegen, die ist ihnen komplett wesensfremd. Darum gehen sie irrigerweise vom alsbaldigen Niedergang des Westens aus, ihn anzugreifen lohnt sich also. [Oder andersrum. Wer hier Schwäche wittert und darum angreift, da muss man nun auf Ulrichs Weisheit vertrauen.] Hier prallen wirklich Welten aufeinander. [Ein wahres Wort. Aber dass dieses Aufeinanderprallen sich als Angriff ausgestalten muss, das hat nun der Autor selbst so vorausgesetzt. Vielleicht sehen andere beim Aufeinanderprallen eher eine Verteidigung?]

Bernd Ulrich startet mit diesem Artikel eine ganze Serie seiner Zeitung, die offenbar der Selbstvergewisserung der Nato dienen soll: „wieder strategiefähig werden“ ist das Motto. Russland und der Islamismus erscheinen als Aggressoren. Gleich dahinter China. Dem Westen droht der Niedergang (das glauben nicht etwa Putin und die Islamisten, sondern Ulrich). Da sollte sich die Nato nun nochmal zusammenraufen. Wie passend, dass gerade heute ein Natogipfel beginnt. Für diesen Gipfel könnte man den Artikel doch gleich mal ins Englische übersetzen, schließlich will Deutschlands Presse auch ihren Platz an der Sonne. Ach, schon geschehen! Dann können ja auch die Natostrategen Sätze lesen wie aus dem Imperialismuslehrbuch:

„Die ostasiatische Machtprojektion der USA schwindet rapide, was der Region alles andere als guttut.“

Wenn die Machtprojektion schwindet, hilft ein Ausflug in die gute alte Zeit, als es noch Grenzen und ordentlich Machtprojektion gab:

„Im Mittleren Osten werden die von den Europäern willkürlich und im eigenen Interesse gezogenen Grenzen infrage gestellt, man ist gewissermaßen wieder am Anfang des 20. Jahrhunderts angelangt, zugleich erinnert uns die religiöse Aufladung der Konflikte dort, auch ihre Bestialität, an den Dreißigjährigen Krieg.“

Die Kolonialherren sind zurück. Wer die vernünftige Herrschaft ihrer Willkür in Frage stellt, ist 1. rückschrittlich, 2. religiös und 3. bestialisch. Die Wilden eben. Wie die Tiere, nur zusätzlich mit unaufgeklärtem Glauben, der sie noch störrischer macht als Esel. In Europa hat man derlei ja spätestens 1648 überwunden. Weiß doch jeder. „Die Welt ist verrückt – und was machen wir?“ Wir richten uns neu aus. Allen voran, das will „Die Zeit“ in den nächsten Wochen diskutieren, „Deutschland mit seiner rapide gewachsenen Verantwortung in Europa, für Europa und für die Länder um die EU herum“. Mitteleuropa. Aus Verantwortung für die Zivilisation. Weltpolitik. Was vor hundert Jahren Mittelafrika, ist heute vielleicht Mittelostia. Das Tor zur Weltmacht.

Heulend ab.

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4 Antworten zu “Griff nach der Westmacht

  1. werter erblogger,

    chapeau.

    ich habe deine zwischenkommentare extremst genossen …

  2. 🙂 Danke schön!

  3. nicht zu danken, ähnlich geht’s mir ja oft mit den pods, die ich so höre, aber es wäre nicht zu schaffen, das so schön aufzuschreiben und auseinander zu legen: übersetzen, was _eigentlich_ gesagt worden ist 😉

    du kennst ja sichr die beste methode, einen narzisten psychologisch auszumachen: der psychologe fragt „sind sie ein narzist?“ und sein gegenüber antwortet stolz: „aber ja doch!“. so ist das auch mit journalisten – sie können einfach nicht anders, als sie in permanenz als vollhonks zu outen, aber sie machen es so, daß viele gar nicht bemerken, wie behämmert das in wirklichkeit ist.

    in diesem sinne war dein post halt eine gelungene übung im übersetzen 😉

  4. Pingback: Umleitung: beginnt mit Freifunk und endet mit Reklame. Dazwischen lungern Themen wie #oneshot-Videos, Veronica Ferres und der Griff nach der Westmacht. | zoom

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