Vom Doktor weiß ganz allein der Wind

Erfährt es eigentlich irgendjemand mit Sicherheit, wenn eine Fakultät einen Doktorgrad entzieht? Die Frage stellte sich neulich, als Sarah-Sophie Koch ihren Doktor schon wochenlang verloren hatte, bevor Vroniplag mit der Plagiatsdokumentation öffentlichkeitswirksam ein Doktorentziehungsverfahren forderte. Und von der Uni Zürich weiß bis heute kein Mensch, wie denn mit den dokumentierten Plagiaten in der Dissertation von Rolf Specht umgegangen wurde, über die die Universität vor fast drei Jahren informiert worden war. Im Fall Koch klärte der Katalog der Düsseldorfer Universitätsbibliothek darüber auf, dass die Doktorentziehung bereits erfolgt war – im Fall Specht weiß der Zürcher und der Schweizer Katalog nichts dergleichen.

Nichts sehen, nichts hören, nichts sagen

Wer weiß, am Ende hat irgendein Gremium den Doktorentzug schon beschlossen, hat es aber nur noch niemandem mitgeteilt. Specht wäre dann ein Zombie-Doktor, das ist eine morbide Figur, die hier und heute das Licht des Schrifttums erblickt und als Bereicherung der Popkultur (Game of Thrones, The Walking Dead usw.) Karriere machen könnte.

Ein Interesse der Öffentlichkeit an der Information über Doktorentziehungen scheint nur bei Promis zu bestehen und von den Universitäten bejaht zu werden – obwohl ein öffentliches Interesse zweifellos bei jeder Entpromotion ebenso gegeben ist, wie zuvor dem Promovierten öffentlich ein Beitrag zum wissenschaftlichen Fortschritt attestiert worden war. Aber im Gegensatz zur Doktorernennung wird die Doktorentziehung als schlechte Nachricht für alle Beteiligten empfunden, und schlechte Nachrichten will ja niemand hören, sagen sich die PR-Experten landauf, landab täglich.

Dem Problem widmet sich nun eine anonyme Internetseite, die ebenso wie schavanplag, lammertplag und einige andere als anonymes Blog auf wordpress.com realisiert ist: Unter depromo.wordpress.com findet sich seit März 2015 eine Seite mit dem Titel „Entzug des Doktorgrades am …. Die Kennzeichnung der Depromotion in Bibliothekskatalogen“, die eine interessante Liste von über 50 deutschen Doktorentziehungen seit dem 20. Jahrhundert enthält. Dabei ist jeweils vermerkt, ob man in der Deutschen Nationalbibliothek (DNB), in der zuständigen Universitätsbibliothek oder sonstwo überprüfen kann, ob das jeweilige Buch als Dissertation aberkannt wurde oder nicht. Die Essays Das Problem, Die Diskussion und “Lösungen” ergänzen die Liste durch lesenswerte Erläuterungen und insbesondere durch Kritik an der Beliebigkeit, mit der all die Fälle behandelt werden.

Fragwürdige Unwürdigkeit

Dabei ist sich die Seite auch für die Diskussion komplexer Probleme nicht zu schade: Neben Plagiaten und Fälschungen ist in der deutschen Tradition der häufigste (und insgesamt womöglich überwiegende) Grund für Doktorentziehungen die Feststellung der „Unwürdigkeit“ des Verfassers, als Doktor der entsprechenden Fakultät gewissermaßen zu einem erlauchten Orden Eingeweihter zu gehören. Ein Entzug erfolgte häufig bei strafrechtlichen Verurteilungen, im Nationalsozialismus bei „nichtarischen“ Doktoren und ebenso wie in der DDR bei „Verrätern“, in letzterem Falle also meist sogenannten Republikflüchtlingen. Da mag der Bundesbürger nun den Kopf schütteln, wie diese Unrechtsregime sich erdreisten konnten, die hehre Wissenschaft mit ihren radikalen Ideologien zu belasten und willkürlich Doktortitel zu entziehen (DDR-Universitäten entzogen auch Doktortitel aus der Nazizeit).

In der Bundesrepublik war es aber auch nicht grundsätzlich anders, ob nun ein Mediziner wegen illegaler Schwangerschaftsabbrüche für unwürdig erklärt wurde, oder ein Jurist wegen Spionage für die DDR. Im jeweils anderen Deutschland ließ sich solcher Doktorentzug auch großzügig ignorieren, wenn es um die formale Qualifikation für akademische Ämter ging. Daher kann man heute feststellen, dass die Qualifikation Annette Schavans für einen Posten im diplomatischen Dienst aus Sicht der DDR zweifellos stets gegeben war.

Doktor Tod

Auf Unwürdigkeit wird man sich heute leicht einigen können im Fall des Nazi-Medizinverbrechers Josef Mengele, dennoch steckt auch hinter seinen beiden in der BRD entzogenen Doktortiteln eine spannende Anekdote. Sie beginnt mit dem selbsternannten Ermittler Hermann Langbein, einem Auschwitz-Überlebenden, der der unwilligen BRD-Justiz Beine machen musste, bevor diese 1959 einen Haftbefehl für den bereits seit langem international als Kriegsverbrecher gesuchten Mengele ausstellte:

„1961 erreichte Langbein auch, dass sich die Universitäten in München und in Frankfurt darum kümmerten, die beiden Doktortitel von Mengele abzuerkennen. Es gab Verfahren an der Goethe-Universität und der Münchner Universität, die dazu führten, dass ihm tatsächlich der Titel aberkannt wurde. Das erboste ihn offensichtlich so, dass er aus seinen südamerikanischen Fluchtort heraus seine Frau Martha beauftragte, Kontakt mit dem Frankfurter Anwalt Fritz Steinacker aufzunehmen, der dann juristisch gegen die Goethe-Universität vorging, wenn auch letztlich ohne Erfolg. (Die Akten dieses Verfahrens sind im Augenblick im Universitäts-Archiv der Goethe-Universität nicht zu finden.)“[1]

Überhaupt kann man sich angesichts der Liste von „depromo“ des Eindrucks nicht erwehren, dass jeder einzelne Fall von Doktorentziehung Stoff für einen Krimi böte, in dem es aufzudecken gälte, was lieber im Dunklen ruhen will.

Moderne Possen

Im Vergleich zu den erwähnten muten aktuellere Fälle geradezu possenhaft an, etwa der des Venezuelaners Alí Ramón Rojas Olaya, der sich auf Twitter derzeit als „Doctor en Ciencias de la Educación (PhD) egresado de la Freie Universität Berlin“ vorstellt und bei dem man schon in der DNB die Onlineausgabe seiner auch gedruckt vorliegenden Dissertation suchen muss, um zu erfahren „Doktorgrad aberkannt“.[2] Oder Fee Holz-Kemmler, deren volkswirtschaftlicher Doktor laut „depromo“ 2005 aberkannt wurde, was aber niemand weiß, so dass das Werk im unternehmensgeschichtlichen Fachbuch „Das Baustoffunternehmen Kemmler: Die Geschichte eines schwäbischen Familienunternehmens über fünf Generationen“ des renommierten Campus-Verlags umstandslos als ihre Dissertation erwähnt wird.[3]

Der Fall von Sarah-Sophie Koch, in dem die Plagiatsjäger von Vroniplag der universitären Realität hinterherhinkten, scheint auch kein Einzelfall zu sein, wie Claudia Rijsbergen zeigt, deren Doktorarbeit, betitelt „Der besondere Schutz von Ehe und Familie“, im Tübinger Bibliothekskatalog mit dem Vermerk „Entzug des Doktorgrades am 23. Oktober 2012 durch den Promotionsausschuss der Juristischen Fakultät der Universität Tübingen“ verzeichnet ist.[4] Zu diesem Zeitpunkt war Vroniplag noch kaum in Fahrt gekommen[5] und hatte im wesentlichen auf den Seiten Plagiate „gefunden“ (um nicht zu sagen: ohne Kennzeichnung aus dem Mops-Block übernommen), auf denen im Mai desselben Jahres, in der Hitze der Schavan-Affäre, die Juristin Nina Coppik in Einzelarbeit die Plagiate aufgedeckt hatte.

Die Probleme, die „unwissenschaftliche“ Aberkennungen aufwerfen, scheinen jedoch nicht schwerwiegend genug, um die offensichtliche Antwort auf die von „depromo“ gestellte Frage, wie Leser über entzogene Doktortitel informiert werden sollten, in Zweifel zu ziehen: Zu den bibliographischen Angaben der Ex-Dissertation ist hinzuzufügen, dass es sich nicht mehr um eine anerkannte Dissertation handelt, am besten per Vermerk auf dem Titelblatt jedes Bibliotheksexemplars, jedenfalls in allen Katalogen, beginnend mit dem Katalog der jeweiligen Universitätsbibliothek. Dass bei den Doktorarbeiten mancher Naziopfer dann zu vermerken sei „Doktor aberkannt 1935, wieder zuerkannt 1987“ oder ähnliches, das mag zwar peinlich sein für die Universität, aber auch diese Geschichte macht man ja nicht ungeschehen, indem man sie verschweigt.

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2 Antworten zu “Vom Doktor weiß ganz allein der Wind

  1. Pingback: Umleitung: Dr. Phutsch, Elektronische Leseplätze, Schulbuchkommissionen, VDS, Klopp, Bednarz, TTIP und die ganze große Lage. | zoom

  2. Hatte heute Nacht einen Albtraum: In einem gut besuchten Herrenhaus steht ein Theaterabend bevor; ich soll Goethes „Faust“ (beide Teile) spielen und muss kurz vor der Aufführung noch schnell den Text lernen. Auch den von Mephisto und Gretchen. Damit nicht genug: In einer eMail ersucht mich mein Mentor Hans Seemüller um die Bewältigung der Flüchtlingsfrage, außerdem habe ich eine eMail erhalten zur Fragestellung, was ein Treppenlift kostet.

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