Zur Causa Reitzenstein: Wissenschaft vor Gericht

Erlaubt es die Verteilung von Rezensionsexemplaren an Zeitungen und Fachzeitschriften, dass der Buchautor auch gleich zu bestimmen hat, was in den Rezensionen steht? Der Historiker Julien Reitzenstein scheint dieser Ansicht zu sein, und das Landgericht Hamburg scheint ihm darin zu folgen. Reitzenstein, Autor einer Düsseldorfer Dissertation über das NS-Institut für wehrwissenschaftliche Zweckforschung („Himmlers Forscher“, 2014 bei Schöningh, Paderborn, erschienen), fühlte sich offenbar durch folgenden Satz eines Rezensenten in seiner Ehre verletzt:

„Bei der Betrachtung der Abteilungen von August Hirt und Sigmund Rascher verzichtet Reitzenstein mit Blick auf die Forschungslage auf eine Darstellung der Verbrechen, was aber angebracht gewesen wäre.“

Rezensions-Prozess mit Widersprüchen

Laut Reitzenstein erließ das Landgericht Hamburg am 27. Juli 2016 eine einstweilige Verfügung zum Verbot des Satzes – wegen „erwiesener Unwahrheit“. Dieser Satz wurde anschließend aus der Rezension von Sören Flachowsky gestrichen und die an sich unauffällige Auslassung (…) mit dem Verweis auf eine „Redaktionsnotiz“ versehen, wie hier nachvollzogen werden kann. Wie es zur Streichung dieses Satzes kam, erklärt die Redaktion der Online-Fachzeitschrift H-Soz-Kult:

„Bei H-Soz-Kult haben die Autor/innen, sollten sie eine Rezension für kritikwürdig erachten, die Möglichkeit, eine Replik zu schreiben, auf die der/die Rezensent/in wiederum antworten kann. Von diesem Angebot machte Reitzenstein bis zum heutigen Tag keinen Gebrauch. Stattdessen ließ er am 30. Juni von einer Anwaltskanzlei dem Rezensenten eine Unterlassungsverpflichtungserklärung zuschicken und ging anschließend gerichtlich gegen Sören Flachowsky vor.
Vor dem Landgericht Hamburg erwirkten Reitzensteins Anwälte am 27. Juli 2016 im Eilverfahren ohne mündliche Verhandlung einen Unterlassungsbeschluss. Ein Rechtsvertreter von Flachowsky war am Verfahren nicht beteiligt. Diesem Beschluss zufolge darf Flachowsky einen bemängelten Halbsatz nicht mehr veröffentlichen, dessen Inhalt wir hier deshalb auch nicht wiedergeben dürfen. Da die Kosten allein dieses Verfahrens, mehr als 2.600 Euro, vom Rezensenten aufzubringen waren, hat sich H-Soz-Kult in Abwägung der Verhältnismäßigkeit und zum Schutz des Rezensenten im August 2016 bereitgefunden, diesen Satz aus der Online-Veröffentlichung der Rezension zu streichen.“[1]

Reitzenstein stimmt der Aussage, dass eine Darstellung der Verbrechen angebracht gewesen wäre, in seiner späteren Erklärung ausdrücklich zu. Von „erwiesener Unwahrheit“ spricht er also nur hinsichtlich der Aussage, er habe auf eine Darstellung der Verbrechen verzichtet. Wie nun will Reitzenstein die Unwahrheit der Aussage „erwiesen“ haben? Er behauptet:

„Wer nun aber ‚Himmlers Forscher‘ einmal durchblättert, wird feststellen, dass die beiden genannten Kapitel beinahe ausschließlich die Schilderung der grausamen und unmenschlichen Verbrechen zum Gegenstand haben:“

Dem Landgericht Hamburg hat es womöglich ausgereicht, einmal zu blättern. (Ausreichend für eine einstweilige Verfügung wäre auch eine eidesstattliche Versicherung des Antragstellers.) Denn blättert man einmal „Himmlers Forscher“ durch, dann sieht man Fotos von Konzentrationslagern und Gaskammern, bei denen in der Bildbeschreibung etwa „Tatort von grauenvollen Verbrechen“ steht (S. 152), liest Zwischenüberschriften wie „Tödliche Versuche“ (S. 129), und fertig ist die Laube. Ausreichende Darstellung der Verbrechen fraglos vorhanden.

Rezensent Flachowsky hätte zu seiner Verteidigung wohl anführen können, er habe sich bei seiner monierten Formulierung („verzichtet Reitzenstein mit Blick auf die Forschungslage auf eine Darstellung der Verbrechen“) auf Reitzensteins Vorwort, S. 9, gestützt, wo es heißt:

„Aufgrund der Tatsache, dass einige Verbrechen selbst in der Literatur hinreichend dokumentiert und beschrieben sind, schien deren erneute detaillierte Darstellung entbehrlich.“

Davon will Reitzenstein inzwischen freilich nichts mehr wissen. Verbrechensdarstellung rückt laut seinen jüngeren Einlassungen in den Fokus seiner Forschungen, der laut Vorwort, S. 9, noch „auf der Beschreibung der Entwicklung des Instituts für wehrwissenschaftliche Zweckforschung, seiner Infrastruktur und seiner zehn Forschungs-Abteilungen“ lag. In seiner Erklärung führt Reitzenstein all jene Verbrechen auf, deren Darstellung er keinesfalls entbehrlich fand, weshalb „die beiden genannten Kapitel beinahe ausschließlich die Schilderung der grausamen und unmenschlichen Verbrechen zum Gegenstand haben“. Allerdings überzeugt seine Auflistung zunächst nicht ganz:

Verbrechen von Sigmund Rascher

„Im Kapitel ‚Rascher‘ mit 43 Seiten wurden Verbrechen Raschers auf mehr als 32 Seiten dargestellt, darunter die luftfahrtmedizinischen Versuche, der mutmaßliche Mord an seiner Haushaltshilfe, Betrug, versuchte Körperverletzung durch Typhus-Serum-Herstellung und -anwendung, Missbrauch von Häftlingen als Versuchspersonen für Blutstillmittel, mutmaßliche Bestechlichkeit auf zwei Seiten und mehrfache Kindsentführungen.“

Grausam und unmenschlich, das könnten „die luftfahrtmedizinischen Versuche“ schon sein, klingt vielleicht etwas allgemein, aber wenn es sich um Sigmund Raschers Morde an KZ-Gefangenen mittels Unterdruck, Unterkühlung und Schussverletzungen handelt, über die man in der Wikipedia so lesen kann, dann passt das schon. Aber nein, die Verbrechen mit den Schussverletzungen nennt Reitzenstein ja „Missbrauch von Häftlingen als Versuchspersonen für Blutstillmittel“.

Mutmaßlicher Mord an seiner Haushaltshilfe ist vielleicht ein mutmaßlich grausames Verbrechen, versuchte Körperverletzung versucht grausam. Es bleiben Betrug, mutmaßliche Bestechlichkeit und „mehrfache Kindsentführungen“. Das klingt ehrlich gesagt nicht ganz so grausam und unmenschlich. Klingt zum Teil auch gar nicht nach den Medizinverbrechen der Nazis, sondern nach ganz normaler Kriminalität. Das fanden die Nazis wohl auch und haben Rascher und seine Frau eingesperrt und umgebracht.

Bedauerlich, dass so eine Figur zum Paradebeispiel für NS-Medizinverbrechen wurde. In der Wikipedia werden Raschers „individualpathologische Perversion“ und „Merkmale von Schizophrenie“ erwähnt. Es ist eine problematische Relativierung der Verbrechen des Nationalsozialismus, wenn man sie auf psychische Erkrankungen zurückführt. Die Wikipedia erklärt das im Artikel Psychopathographie Adolf Hitlers ganz gut. Reitzenstein hingegen findet folgendes Fazit zu Rascher:

„In der Gesamtschau kann davon ausgegangen sein, dass Himmlers Protegé Rascher Größenphantasien entwickelt hat, die sich sowohl in der hohen Bandbreite seiner Forschungen, der Versuchsanordnungen, dem dokumentierten Sadismus, aber auch dem Vorgehen, Himmler fremde Kinder als eigene zu präsentieren, manifestierten. Offenbar hielt Rascher sich für genial, unantastbar und gefiel sich als Herr über Leben und Tod. Dies scheint auch vielen ärztlichen Kollegen aufgefallen zu sein.“ (S. 212)

Was Reitzenstein nicht aufgefallen zu sein scheint: Dass er damit ein Ergebnis präsentiert, das einfach die retrospektiven Einlassungen seiner Hauptquelle Wolfram Sievers reproduziert. Dass in dieser Formulierung Verbrechen keine Erwähnung finden, weil einerseits nur von „Forschungen“ und „Versuchsanordnungen“, andererseits nur von psychischen Erkrankungen („Größenphantasien“, „Sadismus“) die Rede ist. Raschers Vorgesetzter Sievers wird sich gehütet haben, vor Gericht auszusagen, er habe von Verbrechen gewusst.

Nicht nur deshalb ist das Kapitel über Rascher (S. 169-213) nicht besonders geeignet, Reitzensteins Behauptung zu belegen, „dass die beiden genannten Kapitel beinahe ausschließlich die Schilderung der grausamen und unmenschlichen Verbrechen zum Gegenstand haben“. Aber es bleibt ja das Kapitel über August Hirt (S. 105-169), das auch nicht „Blutstillmittel, Rostschutz und Kartoffelbrei“ (S. 169) überschrieben ist, sondern „Anatomie und Menschenversuche“ (S. 105). Durch seine Erklärung kann leicht der Eindruck entstehen, Reitzenstein reihe darin detaillierte Beschreibungen grauenhafter Menschenversuche aneinander:

Verbrechen von mit in Zusammenhang mit August Hirt

„Im Kapitel ‚Hirt‘ – mit 64 Seiten der Schwerpunkt des Buches – wurden dessen Verbrechen auf 61 Seiten dargestellt, darunter die Experimente an Wehrmachtsfähnrichen, die Versuche mit Lost an Häftlingen, das Verbrechen der ‚Straßburger Schädelsammlung‘, sowie die Unterstützung der Phosgen-Versuchen von Otto Bickenbach und der Fleckfieber-Versuche von Eugen Haagen, die beide entgegen der Auskunft des Rezensenten keine Mitarbeiter des Instituts wie Hirt und Rascher waren.“

Das scheint eine recht leicht überprüfbare Behauptung zu sein. Wenn der Leser anschließend mit Gewissheit entscheiden kann, ob Reitzenstein diese fünf Medizinverbrechen dargestellt hat oder ob ihm „deren erneute detaillierte Darstellung entbehrlich“ (S. 9) schien, dann los:

Das Kapitel „Die Abteilung H – Anatomie und Menschenversuche“ erstreckt sich über 65 Seiten. Auf 55 dieser Seiten wird, im weitesten Sinn, Verbrecherisches angesprochen. Diese Auswertung versteht frühere Karrieren, Sekretärinnen, persönliches Kennenlernen oder alltägliche Arbeit als Professor an einer Universität nicht als verbrecherisch. Aber schon ein Satz wie der folgende reicht hier aus, um die ganze Buchseite unter „Thematisierung von Verbrechen“ zu verbuchen:

„Daher ist trotz anderslautender Mutmaßungen nicht zuletzt aus technischen Gründen auszuschließen, dass Hirt Organe lebender Menschen mit der vorhandenen Technik durchleuchten konnte oder wollte.“ (S. 106)

Immerhin wird mit diesem Satz die Möglichkeit verbrecherischer Menschenversuche bestritten. Das ist die weiteste denkbare Auslegung, in der man sich Reitzensteins Behauptung, auf 61 von 64 Seiten Verbrechen darzustellen, annähern kann. Doch selbst mit dieser ausgedehntesten Deutung erreicht man nicht die von Reitzenstein beanspruchten 61 Seiten. Nur wenn auf jeder Seite, auf der Hirt, Sievers oder andere Naziverbrecher erwähnt werden, automatisch Verbrechen thematisiert würden, dann wären es zweifellos alle Seiten jedes Kapitels dieses Buches, das sich um verbrecherische Organisationen dreht. Da sich Reitzenstein aber in erster Linie mit der Organisation der verbrecherischen Organisationen beschäftigt, mit Biographischem bis hin zur namentlichen Nennung aller beteiligten Pferde, mit dem genauen Nachvollzug der Kommunikationswege unter Beachtung oder Umgehung der hierarchischen Ebenen und dergleichen, kann gar keine Rede davon sein, dass „die beiden genannten Kapitel beinahe ausschließlich die Schilderung der grausamen und unmenschlichen Verbrechen zum Gegenstand haben“.

Die erwähnten „Experimente an Wehrmachtsfähnrichen“, die Reitzenstein dargestellt haben will, kommen nur in einem Zitat des „Cheftoxikologen der Wehrmacht, Wolfgang Wirth,“ vor (Ergänzungen von Erbloggtes, Auslassungen von Reitzenstein):

„Das Ganze [d.h. Hirts Forschungen] entwickelte sich immer mit sehr viel Getöse. […] Wir haben auch an 2 oder 3 Fähnrichen experimentiert. Dann haben wir um Ablösung [Hirts] gebeten. Wir […] halten nichts von dieser Sache, Hirt war uns nicht sehr sympathisch.“ (S. 107)

Das „Verbrechen der ‚Straßburger Schädelsammlung'“ erwähnt Reitzenstein öfters, etwa so: „Auch [Michael H.] Kater befasst sich mehr mit dem angeblichen Vorhaben Hirts, eine Schädel- oder Skelettsammlung aufzubauen, als mit dessen Aktivitäten im Ahnenerbe.“ (S. 105) Er beschreibt es allerdings in dem Kapitel nirgends. Vielmehr gebe es nach „rund siebzig Jahren Suche nach belastendem Material gegen Hirt“ keinen Beleg dafür, dass Hirt, als er nach Straßburg kam, Pläne für ein anatomisches Museum gehabt oder „jemals mit irgendwem besprochen hätte“ (S. 109). Reitzenstein argumentiert dann, dass Pläne zu einer Schädelsammlung wohl von Bruno Beger stammten, was spätestens seit den 1970er Jahren bekannt ist, und wofür Beger laut Wikipedia 1974 wegen Beihilfe zum 86-fachen Mord verurteilt wurde. Reitzenstein kümmert sich anschließend weniger darum, was Beger nach diesen Plänen tat und wie Hirt und Sievers darin verstrickt waren (ein Satz S. 122f.). Vielmehr drehen sich seine Ausführungen um Gründe, derentwegen Hirt kein Interesse an derartigen „Mordverbrechen“ (S. 126) gehabt hätte: Fachliche Unzuständigkeit und reichlich Alternativen in der Straßburger Anatomie, um an Leichen für solche Vorhaben zu gelangen (S. 123-127).

Hirts „Versuche mit Lost an Häftlingen“ sind tatsächlich das sich durchziehende Thema des Unterkapitels „Tödliche Versuche“ (S. 129-149), allerdings kann man von einer Darstellung der Verbrechen allenfalls auf den Seiten 129-131, 133f., 137 und 139-149 sprechen, da der Rest von ganzseitigen Abbildungen und Tabellen eingenommen wird. Die tatsächliche Durchführung verbrecherischer Menschenversuche durch Tropfen des gefährlichen Kampfstoffs auf Unterarme von 15 Gefangenen, von denen drei nach 14 bis 24 Tagen starben, wird allerdings nur auf S. 141f. behandelt.

Hirts „Unterstützung der Phosgen-Versuchen von Otto Bickenbach und der Fleckfieber-Versuche von Eugen Haagen“ beschreibt Reitzenstein auf den Seiten 150-156. Wohlgemerkt nicht die Verbrechen selbst, sondern ihre organisatorischen Rahmenbedingungen: Da für Phosgen-Versuche eine Gaskammer benutzt werden sollte, wird für deren Einrichtung im KZ Natzweiler stets Bickenbach verantwortlich gemacht, obwohl Hirt sie bezahlte, auf ihren Einsatz drängte und ein halbes Jahr später beklagte, dass „Prof. Bickenbach bis heute nicht zu dem einzig entscheidenden Versuch geschritten“ sei (S. 153-155). Und es finden sich bei der Beschreibung von Finanzierung und Einbau der „Gaszelle“ en passant folgende Bemerkungen:

„Die Rechnung beinhaltete verschiedene Arbeiten, die am 03.08.1943 – also 1-2 Tage nach Eintreffen der 86 Opfer der Schädelsammlung im Konzentrationslager Natzweiler – und am 12.08.1943 – einen Tag nach Vergasung der ersten von vier Gruppen der 86 Opfer – durchgeführt wurden“. (S. 153)

Im gesamten, 65 Seiten langen Kapitel über die „Abteilung H“ ist dies die konkreteste Annäherung an das „Projekt“ der „Schädelsammlung“: Ein Nebensatz zur Chronologie der Buchhaltung.

Zwischenfazit

Flachowskys verbotene Aussage, Reitzenstein habe in den beiden besprochenen Kapiteln auf die Darstellung „der“ Verbrechen verzichtet, ist sachlich allenfalls dann zu beanstanden, wenn man jedwede Art der Erwähnung als „Darstellung“ verbucht. Reitzensteins Behauptungen, „dass die beiden genannten Kapitel beinahe ausschließlich die Schilderung der grausamen und unmenschlichen Verbrechen zum Gegenstand haben“, ist offenkundig unhaltbar. Angemessener als die entrüstete Zurückweisung unter Inanspruchnahme von hamburgischen Landgerichten erschiene deshalb eine wohlwollende Interpretation von Flachowskys Aussage in ihrem Kontext:

„Im Mittelpunkt des Buches stehen die zehn Abteilungen des IWZ, wobei sich Reitzenstein weniger auf die im Institut betriebenen Forschungen, als vielmehr auf den Auf- und Ausbau seiner Abteilungen, seine Vernetzungen und die damit zusammenhängenden SS-internen Entscheidungsprozesse konzentriert.“ (Flachowskys Rezension)

Der wertende Aspekt von Flachowskys verbotenem Satz ist ja, dass er schlecht findet, dass Reitzensteins Schwerpunkte beim Organisatorischen liegen und nicht beim tatsächlichen Geschehen, speziell der Durchführung von verbrecherischen Menschenversuchen. Diese Schwerpunktsetzung ist nicht zu leugnen, und Reitzensteins Vorwort lässt daran auch keinen Zweifel:

„Daher liegt der Fokus des vorliegenden Buches auf der Beschreibung der Entwicklung des Instituts für wehrwissenschaftliche Zweckforschung, seiner Infrastruktur und seiner zehn Forschungs-Abteilungen.“ (S. 9)

Ironischerweise findet sich in einer wesentlich früheren Rezension von Reitzensteins Buch folgende Passage, die inhaltlich dem verbotenen Satz sehr ähnlich ist, gegen die Reitzenstein aber offenbar nicht vorgegangen ist:

„Leider geht Julien Reitzenstein weder auf den Nürnberger Ärzteprozess noch auf die medizinischen Verbrechen des wehrwissenschaftlichen Instituts näher ein. Diese seien in der Literatur hinlänglich dokumentiert, begründet der Autor seinen Verzicht. Dabei hätten entsprechende Ausführungen dem Buch durchaus gutgetan, denn langatmige Erläuterungen zu Ämtern, Budgets und Personalproblemen – bis hin zum Ärger mit der Haushaltshilfe – wirken auf Dauer ermüdend.“[2]

Das ist sicher richtig. Aber wer bis hierhin durchgehalten hat, interessiert sich vielleicht auch für die Fortsetzung dieser Besprechungsbesprechung, die demnächst hier zu lesen sein wird. Darin geht es um die Bedingungen für das Wegklagen von Kritik, um mögliche Gegenmaßnahmen, und um den von H-Soz-Kult gewählten Weg.

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23 Antworten zu “Zur Causa Reitzenstein: Wissenschaft vor Gericht

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  5. Dr. Bernd Dammann

    Über Bombenleger und Rohrkrepierer einer Rufmordkampagne

    Die von erbloggtes an anderer Stelle zitierte Passage aus der Rezension des Reitzenstein-Buches, die bereits am 22. September 2014 im Deutschlandfunk gesendet worden war, lautet – ich wiederhole sie noch einmal:
    „Leider geht Julien Reitzenstein weder auf den Nürnberger Ärzteprozess noch auf die medizinischen Verbrechen des wehrwissenschaftlichen Instituts näher ein. Diese seien in der Literatur hinlänglich dokumentiert, begründet der Autor seinen Verzicht. Dabei hätten entsprechende Ausführungen dem Buch durchaus gutgetan, denn langatmige Erläuterungen zu Ämtern, Budgets und Personalproblemen – bis hin zum Ärger mit der Haushaltshilfe – wirken auf Dauer ermüdend. Statt minutiös den Kampf um Professuren und Posten zu beschreiben, hätte man sich einige erhellende Passagen zu den Medizinverbrechen der SS-Forscher gewünscht.“

    Mit dieser auf jeden Fall sinngemäß, aber zugleich verschlankt und dadurch gleichwohl in verschärfter und zugespitzter Form übernommenen unwahren Tatsachenbehauptung hat Herr Dr. S.F in seiner Buchbesprechung, und zwar ohne Nachweis der ihn anleitenden Quelle, nicht nur sich, sondern auch der gesamten H-Soz- und –Kult-Fraktion, wie wir jetzt sehen, einen richtig schönen Rohrkrepierer ins Nest gelegt.

    Aber vielleicht war er das ja gar nicht selbst? Ist das vielleicht sogar ohne sein Zutun geschehen? Oder musste er das etwa auf Geheiß seiner Berliner wissenschaftlichen Mentoren tun? Jedenfalls verdichtet sich hierdurch der schon ganz am Anfang dieser Affäre noch unausgesprochen im Raum stehende Anfangsverdacht, ein unliebsamer Mitbewerber und ernsthafter Konkurrent um die auch in der Geschichtswissenschaft inzwischen äußerst rar gewordenen Dauerbeschäftigungsverhältnisse im Wissenschaftsbetrieb sollte auf diese Art und Weise möglichst lautlos, dafür aber umso wirksamer aus dem Weg geräumt werden.

    Rechtlich und wissenschaftsethisch muss nun Dr. S.F. dafür gerade stehen, sozusagen als Bauernopfer im Ränkespiel einer professoralen H-Soz- und-Kult-Clique gegen die hier einschlägig fachkompetenter einzustufenden Hochschullehrer in der Historikerzunft, die in ihren Rezensionen diese in der H-Soz- und –Kult-Rezension gierig wieder aufgegriffene Mängelrüge, die im Deutschlandfunk artikuliert worden war, in dieser unqualifiziert verallgemeinernden Form schon längst als unbegründet und deswegen nicht haltbar zurückgewiesen hatten.

    Aber dafür hat unser Anonymus Erbloggtes ja eine für ihn bezeichnende Patenterklärung in petto: Akademiker, die seine Sicht der Dinge nicht teilen, haben sich von Dr. Reitzenstein durch kostenlose Rezensionsexemplare korrumpieren lassen. Nicht weniger toll treibt es die promovierte Historikerin Frau Dr. Birte Förster um, die in der FAZ die Rufmordkampagne gegen Reitzenstein losgetreten und so richtig in Fahrt gebracht hat. Ihr gilt die gerichtlich verfügte Entfernung dieser unter Plagiatsverdacht geratenen und rufschädigenden Passage aus der H-Soz- und –Kult-Rezension als „ein schlechter Tag für das Rezensionswesen, wenn fachliches Urteil weggeklagt wird, weil Ressourcen fehlen.“ – Schlimmer geht’s nimmer!

  6. Sehr verehrter Dr. Bernd Dammann,
    Sie können doch präziser formulieren. Machen Sie das doch demnächst wieder, dann schlägt der Spam-Filter des Blogs vielleicht nicht an. Speziell wer wen wie manipuliert, wer was wie erklärt, und welche Indizien aus Ihrer Sicht darauf hindeuten, könnte verständlicher machen, wen oder was Sie mit „Bombenleger und Rohrkrepierer“ meinen, und warum.
    Ich habe immerhin verstanden, dass „unser Anonymus Erbloggtes“ weniger schlimm sei als Dr. Birte Förster. Aber warum? Und an welcher anderen Stelle habe ich die zitierte Passage zitiert? Mir ist nur die direkt über Ihrem Zitat zitierte Passage bewusst, und die ist ein Stück kürzer.

    P.S.: Ist Ihnen eigentlich aufgefallen, worum es im obigen Artikel im Kern geht, und welche Arbeitsschritte ich dazu unternommen habe?

  7. Puh, die Verschwörungstheorie von Herrn Dammann ist höchst erschreckend – und zwar in Bezug auf die Wortwahl: „Rufmordkampagne“, weil Flachowsky eine im Grunde positive Rezension geschrieben hat. Den Schritt von der Wissenschaft zum Gericht hat ja Reitzenstein getan. Dafür wird er kritisiert, und zwar zu Recht. Inhaltlich hätte ich ihn ehrlich gesagt härter rezensiert als Flachowsky. Wirklich stark finde ich ihn bei der Rekonstruktion der Leichenbeschaffung für die Straßburger Anatomie (S. 123-127) und der Recherche der Opfernamen für die Lost-Versuche (S.134-139). Und er spricht meiner Ansicht nach einige Aspekte an, die sehr wichtig sind, die er aber dann gar nicht als von besonderer Tragweite erkennt. Aber viele seiner Ausführungen zum Ahnenerbe lassen eben auch erkennen, dass eine stärkere Kontextualisierung in den Rahmen der SS und der damaligen Wissenschaftslandschaft notwendig gewesen wäre, um Verhältnismäßigkeiten bei der Bedeutung von Personen und Handlungen einschätzen zu können.
    Ansonsten: Ich hab zwar nicht verstanden, wer die „hier einschlägig fachkompetenter einzustufenden Hochschullehrer in der Historikerzunft“ sind (und frage mich auch, wer in diesem Bereich fachkundiger sein könnte) und wo sie sich geäußert haben, würde das aber gerne mal lesen. Gibt’s einen Literaturhinweis?

  8. Ich kann nur Reitzensteins Homepage mit den Rezensionen vermuten:
    http://www.geschichtsmanufaktur.eu/5.html
    Aber Vorsicht: Wenn oben fachkompetentere Hochschullehrer vorgestellt werden, dann ist die lesenswert kritische Rezension unten versteckt als

    „Februar 2015 Journal der Juristischen Zeitgeschichte
    Rezension von Univ-Doz. Dr. Martin Hall“

    Abgesehen davon, dass der „Februar 2015“ zwischen dem 1.9.2014 und dem 20.9.2014 einsortiert ist, lässt sich die Rezension so nicht auffinden. Was es aber gibt, ist eine Rezension von Univ.-Dozent Dr. Martin Moll in: Journal der Juristischen Zeitgeschichte Band 9, Heft 2 (Juni 2015), S. 70f.
    Moll beklagt unter anderem, „dass sich die Arbeit immer wieder in irrelevante Details verliert“, sowie den „stark auf die handelnden Personen, insbesondere auf Sievers, zugeschnittene[n] Ansatz des Autors, der die Protagonisten bis auf die Ebene der Sekretärinnen herab langatmig vorstellt“ und damit „die Schwierigkeit des Lesers [erhöhe], einen roten Faden zu erkennen.“ Der letzte Absatz der Rezension gewährt in Gänze einen Eindruck davon, wie fachkompetentere Hochschullehrer Kritik zur Geltung gebracht haben, die bei Flachowsky eher zu kurz kommt (dass Flachowsky auf ihre Darstellung verzichtet habe, wage ich aus juristischen Erwägungen nicht zu schreiben):

    „Der Verfasser hat eine Unzahl selbst entlegenster Quellen (zeitgenössische sowie solche aus den Nachkriegsprozessen gegen Sievers und andere) ausgewertet, die er allerdings eher referiert als analysiert. Die Darstellung ähnelt daher oft einer Chronologie basierend auf Briefen, Telefonaten, Dienstreisen, Unterredungen usw., die anhand der Hauptquelle, dem Diensttagebuch Sieversʼ, nachgezeichnet wird. Zahlreiche Wiederholungen, die Detailverliebtheit des Verfassers und seine umständliche Ausdrucksweise erschweren die Lektüre ebenso wie die Verbannung der mehreren tausend Anmerkungen in einen Endnotenteil, der rund 85 Druckseiten einnimmt und ständiges Nachschlagen erfordert. Damit nicht genug, strotzt der offenbar vollkommen unlektorierte Text von Datierungs- und sprachlichen Fehlern jeglicher Sorte; kaum ein Satz, den man als fehlerlos und stilistisch gelungen bezeichnen könnte. Der ganze Text wirkt mehr wie ein erster Entwurf, der formal und inhaltlich einer gründlichen Nachbearbeitung bedurft hätte. Schade, dass derlei heute selbst bei einem renommierten Verlag als entbehrlich gilt, was die Brauchbarkeit dieser im Grunde fleißigen und erkenntnisfördernden Arbeit massiv herabsetzt.“

    Die Kritikpunkte Molls sind unbestreitbar (obwohl: Ich vermute, bei eingehender Suche ein paar Sätze finden zu können, die zumindest fehlerlos sind). Allerdings greift er mit seiner Kritik an Stil und sprachlichen Fehlern noch zu kurz. Wir wissen ja inzwischen, dass Reitzenstein sich spätestens dann in Selbstwidersprüche verwickelt, wenn er einen Rechtsstreit darüber vom Zaun bricht, was er selbst in seiner Dissertation behauptet hat:

    „Die Schilderung der aus der Literatur hinlänglich bekannten gut dokumentierten Verbrechen der Humanexperimente im Institut für wehrwissenschaftliche Zweckforschung ist ausdrücklich nicht Gegenstand dieser Arbeit. Denn diese primäre Zielsetzung, die Organisationsstruktur zu beleuchten, die den Rahmen für diese Verbrechen schuf.“ (S. 16, sic! Ja genau, das Ziel der Arbeit: ohne Prädikat.)

  9. Als ich das Buch gelesen habe, kam es mir nicht nur schlecht vor (kaum Kontext, kaum Analyse, kaum Forschungsdiskussion, Detailverliebtheit ohne Sinnfrage, schlimmes Deutsch), sondern auch gefühllos. Manchmal hatte ich den Eindruck, dass Reitzenstein nur mit seinen Tätern durch die Geschichte geht, und böser Revanchismusverdacht wollte sich einstellen. Das wäre aber vollkommen falsch. Man sollte zwischendurch immer mal wieder bestimmte Abschnitte im Vorwort lesen, um das ganze Unglück des Autors zu erkennen. Denn Reitzenstein ist kein kalter Typ und musste zwischendurch in den Papierkorb kotzen. Das entschuldigt vielleicht nicht den Historiker, ehrt ihn aber als Menschen.

  10. Finde ich einen spannenden Eindruck. Was mich dann aber stört, ist, dass er Sievers doch immer wieder entlasten will mit den Verweisen darauf, dass dieser die tödlichen Menschenversuche gar nicht so wirklich gewollt habe. Das hat Flachowksy ja auch kritisiert. Aber wie schon festgestellt, das Buch ist an sich widersprüchlich.

  11. Hoepoes Eindrücke hatte ich auch. Ich führe sie zurück auf die von auch Moll kritisierte Vorgehensweise, Quellen eher zu referieren als zu analysieren, und sich dabei massiv auf die Hauptquelle, Sievers‘ Diensttagebuch, zu stützen. Reitzenstein kriecht in Sievers‘ Kopf. Das erklärt 1. die apologetische Haltung gegenüber Sievers (der sich in seinem Diensttagebuch ja nicht selbst als Monster inszenierte), 2. Reitzensteins Abscheu (wenn er sich doch mal die Leiden der Opfer ausmalt), 3. die Detailverliebtheit (weil er Sievers‘ Alltagsgeschehen nachgeht und Sievers natürlich an jedem Tag neue wichtige Aufgaben vermerkt).

    Reitzenstein hat verweigert, eigene Fragen zu stellen, es bezeichnenderweise „dem Leser anheimgestellt, sich eigene Gedanken zur Sprache von Sievers“ und Co. zu machen (S. 24). Er folgt Sievers‘ Gedankenwelt. Das Schlimme daran ist, dass das typisch für historistische Geschichtssschreibung ist. Hätte er mit dieser Methode Graf Winkelbert Stusswart zu Kuchendorf von anno Tobak erforscht, hätte womöglich niemand Anstoß daran genommen. Nur wenn man Nazi-Täter erforscht, fällt man mit dieser „sympathischen“ Herangehensweise auf die Nase.

    Aber Kritik daran findet sich in den Rezensionen kaum. Bei der Suche danach, ob Wildt und Hohls etwas in der Art bemerken, fällt mir auf, dass sie in ihrer Stellungnahme eine Passage drin haben, die nicht von Flachowsky stammt:

    „Der Autor hat sehr viele, selbst randständige Quellen ausgewertet, die häufig eher referiert oder über Zitate eingebunden, nicht jedoch im wünschenswerten Maße im historischen Kontext analysiert werden. Einzelne Abschnitte ähneln eher einer chronologischen Zusammenschau von Briefen, Telefonaten, Tagebuchauszügen, Dienstreisen, Besprechungen usw., was 2.350 Anmerkungen im umfänglichen Endnotenteil zur Folge hat. Deshalb sowie wegen der ungewöhnlichen Kapiteleinteilung, der Redundanzen und Rechtschreibfehler wäre ein formales und inhaltliches Lektorat seitens des Verlages hilfreich gewesen.“

    Wer nun meint, sowas schonmal irgendwo gelesen zu haben, suche in meinem vorigen Kommentar das lange Zitat von Martin Moll. Da steht das alles schon (abgesehen von der „ungewöhnlichen Kapiteleinteilung“). Sehr enttäuschend, dass sich zwei hochgerühmte Professoren anlässlich der Kontroverse „entschlossen, eine eigenständige Bewertung des Buchs unter Einschluss einer inhaltlichen Zusammenfassung der Rezension zu verfassen“,[1] und dass dann nichts anderes als eine verschleierte Kompilation anderer Rezensionen dabei herauskommt.

  12. Ich kenne das selbst, dass man Nähe zu den Menschen entwickelt, die man erforscht, auch bei Tätern. Und gerne alle möglichen Details erwähnt… Das kann man aber durch Kontextualisierung und die Einbindung von Sekundärliteratur wieder etwas einfangen. Ich war auch noch nie in Versuchung, minutengenaue Angaben zu Zugverbindungen oder sowas anzugeben. Und bei den Namen der Kinder von NS-Tätern, die noch leben, hätte ich mich sicherlich auchmal gefragt, ob ich die da reinschreiben muss, nur weil die OSS-Akten die so schon präsentieren.
    Und da jetzt ein Lektorat zu fordern, nunja: Es ist eine Diss. Da hätte die Aufforderung, das, was Moll als „Entwurf […] dieser im Grunde fleißigen und erkenntnisfördernden Arbeit“ (das sehe ich auch so) bezeichnet hat, zu überarbeiten, doch schon weit vor der Drucklegung erfolgen müssen.
    Was mich aber erschreckt: „Der promovierte Historiker ist seit vielen Jahren Lehrbeauftrager; im laufenden Wintersemester an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg und an der Führungsakademie der Bundeswehr. Zudem hat er eine Gastprofessur für Geschichte und Politik der Architektur inne.“ Das steht auf http://www.geschichtsmanufaktur.eu/3.html.
    Er unterrichtet also die kommende Generation Historiker*innen. Ich schließe daraus, dass er in Düsseldorf mit einer ziemlich guten Note promoviert hat (bei wem eigentlich?) und eventuell habilitieren will. Ich hätte mir gewünscht, dass die erste Reihe der beamteten Professor*innenschaft sich auch mal in diese Richtung einer allgemeinen Qualitätsdiskussion geäußert hätte.
    Jetzt frage ich mich ernsthaft, warum ich mir eigentlich so einen Kopf um hohe wissenschaftliche Standards mache?!

  13. Vielen Dank also für die persönlichen Einblicke!
    Streng genommen ist das Buch, über das wir reden, nicht bloß eine Diss., sondern die „überarbeitete“ Verlagsveröffentlichung, die aus der bereits im Selbstverlag veröffentlichten Diss. hervorging. Das ist die Diss.:
    http://d-nb.info/1049501209 Die existiert aber nur in Bibliotheken in Düsseldorf und Münster.
    Erstgutachter war Bernd-A. Rusinek, aber dass das in der Schöningh-Version nicht erwähnt wird, wirft die Frage auf, ob man da wirklich von einem Doktorvater-Verhältnis reden kann. Idealerweise sollte der ja entsprechend beraten und allerlei faux pas vorbeugen.
    Was die Gefährdung des Historikernachwuchses angeht, glaube ich dich beruhigen zu können. Reitzensteins Publikationsliste zeigt, dass die Karriere eher auf die Immobilienwirtschaft ausgerichet ist, wo sich aber der Dr.-Titel sicher auszahlen wird.
    Aber das gehört auch zu den falschen Voraussetzungen, von denen Dr. Bernd Dammann oben ausging: Dass Reitzenstein mit Flachowsky um Dauerstellen konkurriere.
    Nur warum er dann diesen Aufstand gemacht und Aufmerksamkeit auf die Qualität seiner Arbeit gelenkt hat, das habe ich von Anfang an nicht verstehen können.

  14. Interessante Diskussion, habe mir das Buch noch mal zu Hand genommen. Was mich jedoch allgemein wundert, ist der Eindruck, dass es in der im Netz kursierenden Gesamtdebatte offenbar wohlfeil ist, einzelne Aspekte auf dem Zusammenhang zu reißen und so zu interpretieren, dass sie ins (negative) Bild passen:

    Die oben gemachte Behauptung, Reitzenstein arbeite in der Immobilienbranche und mache mit Dr.-Titel Geld ist m.E. reine Spekulation und Stimmungsmache. Gibt es Erkenntnisse, bei welcher Immobilienfirma, er sich die Taschen vollmacht? Ich kannte ihn als investigativen Journalisten mit Spezialgebiet Wirtschaft und Finanzen. Insbesondere die Immobilienwirtschaft und deren Manager prangert er intensiv an. (Es ist m.E. nach ein Unterschied, ob jemand Teil eines Systems ist oder über ein System schreibt. Sonst wären ja alle NS-Forscher Nazis, oder?.) Er schreibt bis heute u.a. für Haufe, wie im Netz unschwer zu finden und war bis vor rund zehn Jahren bei einer Publikation, für die ich damals auch gelegentlich schrieb. Und gerade bei solchen Verlagen ist es tödlich, wenn auch nur der böse Schein besteht, jemand sei politisch nicht zuverlässig. Haufe ist recht juralastig und daher rührt wohl auch seine Nüchternheit in der Beschreibung von historischen Sachverhalten und seine Differenzierung von Sievers.

    Für Nichtjuristen mag es keinen Unterschied geben zwischen Haupttäter (Sievers hat sich selbst etwas Kriminelles ausgedacht) und Mittäter/Beihelfer (Sievers hat Verbrechen Dritter befördert oder ermöglicht). Das relativiert Sievers ja nicht (das war wohl nach Reitzensteins Homepage das Problem seiner Auftraggeber mit der Rezension: Als Relativierung verkaufte Differenzierung bei gleichzeitigem Verschweigen der Opferleiden), sondern differenziert ihn. Ein Strafrechtler interessiert sich dafür, WESHALB jemand ein Verbrechen begangen hat und muss dazu in dessen Kopf. Und ich fand damals beim Lesen den Gedanken interessant, dass Sievers eben kein Überzeugungstäter war, wie Himmler, Rascher, Mengele und andere, sondern ein rücksichtsloser Opportunist. Daher fand ich seinerzeit spannend, dass Reitzenstein herausgearbeitet hat, dass Sievers aus religiösen Gründen Probleme mit Humanversuchen hatte, und dann karrieristisch dennoch gnadenlos alles gemacht hat, was ihn weiterbrachte, also noch mieser war, als die Überzeugungstäter.

    Zum Hauptthema hier: Der Autor lässt den Leser nach meinem Verständnis ausdrücklich wissen, dass die Versuche, die der Luftwaffenarzt Rascher für die Luftwaffe (und nicht das Ahnenerbe, also das Buchthema) durchgeführt hat, so umfassend in der Literatur geschildert sind, dass es redundant wäre, diese „erneut“ UND „detailliert“ zu präsentieren. Deshalb hat er diese Verbrechen nicht detailliert beschrieben, sondern zusammengefasst. Der Anspruch an eine Diss ist m.E., Neues zu präsentieren und nicht auf hundert Seiten Bekanntes nur neu zu komponieren. Das ergibt für mich auch wieder Sinn, da er einleitend sinngemäß schreibt, dass er seine Arbeit eher als Kompendium aller bekannten Quellen zu dem Institut versteht und weniger als Interpretation. Er schraubt seinen Anspruch also runter und dämpft zu hohe Erwartungen. Vielleicht, weil er kein beamteter Vollzeitwissenschaftler ist und seine Grenzen in Theoriedebatten kennt, vielleicht, weil er zurückhaltend auf das abhebt, wo er sich sicher fühlt: Archivarbeit und sachliche Widergabe von Geschehenem.

    Es steht ja in der Einleitung, dass die Arbeit sich ausdrücklich nicht als Einordnung in methodische Diskussionen oder Denkschulen versteht. Und prompt wirft Flachowsky ihm vor, die Einordnung in Denkschulen missglückt vorgenommen zu haben.

    Im KVV der HHU der letzten Semester habe ich eben gefunden, dass er schon seit vielen Semestern mit Bernd-A. Rusineck gemeinsam Seminare gibt. Insofern finde ich auch diese hier stattfindende Spekulation über das Verhältnis beider interessant. Die Frage nach dem Prädikat ist auch interessant. Ist das öffentlich? Und auch, wer den Vorsitz in der Kommission hatte? Er gibt ja laut KVV Hauptseminare in Düsseldorf und Vorlesungen. Ist er schon habilitiert? Und wenn jemand so viele Jahre an denselben Unis ist und alle Evaluationen offenbar übersteht, kann man hier ja tatsächlich spekulieren, wie es mit der Qualität aussieht.

    Zum Abschluss bleibt für mich die Frage offen, weshalb alle auf der Flachowsky-Wildt-Hohls-Beurteilung so herumreiten. Eine Arbeit über eine offenbar vorwiegend wehrmedizinisch intendierte Einrichtung wurde von gleich zwei ausgewiesenen und erfahrenen Wissenschaftlern aus dem Bereich Medizingeschichte, bzw. Wehrmedizingeschichte sehr gut rezensiert, die Akribie und die Details gelobt: Richard Kühl von der Uni Tübingen und der Direktor der Medizingeschichte am UKE, Philipp Osten in Hamburg müssen sich auch fragen, ob sie im falschen Film/Buch waren?

  15. Auf die Gefahr hin, dass ich irgendwann auch verklagt werde, nochmal (und ich betone vorsorglich, dass ich hier einfach meine persönliche Meinung äußere): Herr Reitzenstein referiert aus meiner Perspektive nicht „nüchtern“ Sachverhalte. Er stellt sie im Gegenteil auf eine bestimmte Art und Weise dar, und zwar geleitet von der These, dass Wolfram Sievers Opportunist war und sein Handeln sich aus seinem Karrierestreben erklärt. Dieser These folgt er meiner Ansicht nach, weil er selbst ein bestimmtes Bild eines NS-Täters im Kopf hat und Wolfram Sievers diesem für ihn nicht entspricht. Folgt man diesem Vorgehen, kommt man unweigerlich wieder irgendwann an den Punkt, dass es fast überhaupt keine überzeugten Nazis in Deutschland gegeben habe.
    Herr Reitzenstein hat aus meiner Sicht auch nicht „nachgewiesen“, dass Sievers aus religiösen Gründen Menschenversuche ablehnte, sondern übernimmt die Behauptung aus Ina Schmidts Hielscher-Buch. Er nimmt in der Folge meines Erachtens keine „Differenzierung“ der Person Sievers vor, sondern eine – von ihm vermutlich gar nicht bewusst intendierte – Relativierung, die sich aus seiner Methodik ergibt: Er legt soweit ich es sehe primäres Gewicht auf Täterquellen der SS bei Nichteinbeziehung von Gegenüberlieferungen; zieht entlastende Nachkriegszeugnisse heran, um Aussagen zur NS-Zeit zu stützen; belegt manche Dinge überhaupt nicht wie etwa bei der schon mal von mir zitierten Sache mit der Zusammenarbeit zwischen Ahnenerbe und Reichssicherheitshauptamt. Und schlussendlich: Er trennt nicht zwischen Quellenaussage und eigener Interpretation, etwa wenn er Intentionen in Handlungen erkennen möchte, auch wenn die Quellen dazu selbst nichts aussagen.
    Darüber hinaus hat Herr Reitzenstein als Historiker promoviert und lehrt auch als solcher, auch wenn er jetzt juristische Argumentationen und Instanzen bemüht. Wir haben es aber doch wohl nicht nötig, den Nürnberger Ärzteprozess zur Aburteilung oder Entlastung des Wolfram Sievers zu wiederholen, sondern sollten uns von historischen Fragestellungen leiten lassen.
    Was Herr Reitzenstein privat macht, interessiert mich nicht. Was mich aber interessiert, ist die Frage, ob jemand, der an der Uni Studierende ausbildet, in der Lage ist, Quelllen differenziert und methodisch korrekt auszuwerten und sie im Kontext richtig einzuordnen. Und da schockiert mich persönlich dieser Fall ganz außerordentlich.
    Was ich daran wirklich tragisch finde, ist, dass Herr Reitzenstein auch ganz tolle Quellenfunde gemacht hat. Durch sein juristisches Vorgehen gegen inhaltliche Kritik wird das aber wohl eher nicht mehr in die Debatte einfließen.

  16. Die politische Zuverlässigkeit liegt ja im Auge des Betrachters. Die Dissertation erschien zuerst im Verlag „Pragmatic Words & Pictures“, Leipzig. http://d-nb.info/1049501209
    Wie dieser, ähm, Verlag, mit der „Pragmatic Group“, Leipzig, verbandelt ist, welche Rolle Reitzenstein da spielt, und ob das ein Teil des Systems ist oder über das System schreibt, na, da kann sich ja jeder ein eigenes Bild von googlen.

    Auf Flachowsky-Wildt-Hohls reiten alle so rum, weil Reitzenstein um die einen Skandal gestrickt hat. Nur nebenbei auch deshalb, weil „2 Medizinhistoriker sticht 1 HSozKult“ Quatsch ist.

  17. Mmh – verstehe. Hatte schon bei dem FAZ-Artikel den Eindruck, dass etwas Persönliches dahintersteckt, wie ja auch der erste Kommentar hier vermutete. Zwei weitgehend unbekannte Mittelbau-Historiker: ob für einen FAZ-Feuilleton-Leser wirklich so interessant ist, ob einer von beiden unbekannten Kontrahenten seinen Ruf „verschlimmbessert“? Allerdings mag ich mich an Spekulationen nicht beteiligen: In meinem Fach geht es eher um Erkenntnis, als um Interpretation. 😉

    „Erbloggtes“ liegt aber richtig „2 Medizinhistoriker sticht 1 HSozKult“ wäre wirklich Quatsch. Wenn ich das behauptet hätte. Mir ging es jedoch eher darum, dass meines Erachtens Wissenschaft vor allem der Austausch verschiedener Meinungen ist. Der Hinweis, dass es nicht nur die eine Meinung über das Buch gibt, sondern viele verschiedene Meinungen, war mir deshalb richtig, weil die Debatte etwas einseitig schien. Nichts für ungut.

  18. Eine Meinung mag sein, es stecke Persönliches woauchimmer. Schade, wenn Ihr Fach vor allem der Austausch verschiedener Meinungen ist. Dann wird es das Ziel einer Erkenntnis nur zufällig erreichen, und das dann auch gar nicht bemerkt haben. Aber das ist natürlich bloße Interpretation.

    Sollen wir nochmal darauf zurückkommen, inwiefern es sich beim gerichtlichen Verbieten kritischer Äußerungen um den Austausch verschiedener Meinungen handelt? Das ist nämlich der eigentliche Knackpunkt der Causa Reitzenstein.

  19. Was ist denn damit gemeint, „dass etwas Persönliches dahintersteckt“? Ich verstehe den Hinweis nicht, worauf zielt er? Meiner Ansicht nach steckt in dieser ganzen Debatte überhaupt nichts Persönliches. Zumindest Flachowsky würde ich auch nicht als „weitgehend unbekannten Mittelbau-Historiker“ bezeichnen, dazu ist er wohl doch schon zu renommiert.

  20. Damit ist wohl gemeint, eine verborgene Welt der bösen Absichten steuere die offenbare Welt der wissenschaftlichen Kommunikation. Daraus ergibt sich dann die Notwendigkeit, die herrschenden bösen Absichten juristisch einzuhegen, und so erscheint schließlich das Vorgehen des politisch zuverlässigen Investigativjournalisten Reitzenstein gerechtfertigt.

    In diesem Blog werden sich von früher noch einige Theorien finden lassen, die zu erklären versuchten, warum Annette Schavan behauptete, in ihrer Dissertation nicht betrogen zu haben, und warum dem dann einige einflussreiche Professoren beipflichteten. Die hatten nämlich persönlich und institutionell Interesse an den Forschungsmilliarden ihrer Ministerin.

    Andersherum hatten natürlich auch jene Schavanisten damals so ihre Theorien, wie es sein könne, dass manche Leute die Heiligkeit der heiligen Annette verleugneten: Das müssen Kommunisten sein, oder vielleicht sogar Judaisten! Die Schavanisten hatten nämlich die Welt der bösen Absichten im Düsseldorfer Promotionsausschuss aufgespürt. Problem: Das persönliche Interesse der Düsseldorfer war nicht so leicht auszumachen. Da brauchte man schon eine Verschwörung, am besten natürlich die Jüdische Weltverschwörung, Abteilung für Plagiatsverfahren.

    Was lernen wir daraus für die heutige Situation? Den Eindruck, dass etwas Persönliches dahintersteckt, kann man je nach Interessenlage leicht haben. Manchmal ist klar benennbar, was denn das Persönliche ist, was dahinterstecken mag. Und manchmal ist es besser, nur so vor sich hin zu raunen, weil das dann anschlussfähiger für beliebige Ressentiments ist.

    Also Vorschlag, ich schreibe einen Artikel über kritikwürdige Aspekte von Reitzensteins Dissertation, die jegliche kritische Rezension erklären könnten (ach, hab ich ja schon). Und Patrick klärt uns auf, um welches persönliche Interesse es sich denn bei der H-Soz-Kult-Verschwörung genau handeln mag. Ist es vielleicht ein geheimer Kult? Ich glaube, dafür gibt es ein Indiz.

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