Jüdische Weltverschwörung, Abteilung für Plagiatsverfahren

Er schafft es immer wieder, sich heimlich reinzuschleichen: Allerlei Rassismus, alltäglicher wie nicht alltäglicher. Rassismus ist wohl der geeignete Oberbegriff für viele Spielarten von Ressentiments, Diskriminierung und Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit. Rassismus ist in diesem Sinne jede Unterscheidung von Menschen anhand ihrer imaginierten oder tatsächlichen Zugehörigkeit zu Abstammungsgemeinschaften. Abstammung existiert, lernt jedes Kind von Mama und Papa, und so ist die Neigung, ihr weitere Bedeutungen zuzusprechen, früh gesät und kulturell tief verankert.

Es ist Ausdruck von Rassismus, aus Abstammung Eigenschaften abzuleiten. Schwarz sein, weiß sein? Wie lange muss Gabi Müller auf die Sonnenbank, um nicht mehr weiß zu sein? Wer sagt, dass Gabi Müller je weiß war? Deutsch sein, französisch sein? Durch das ius sanguinis werden Staatsbürgerschaftsrechte per Abstammung vergeben, eine rassistische Praxis, aber sehr beliebt. Wer die richtige Abstammung nicht nachweisen kann, muss anspruchsvollere Bedingungen erfüllen, um Staatsbürger zu werden. Ethnische Diskriminierung, von den Vereinten Nationen als Rassismus geächtet, aber mit „pragmatischen“ Argumenten immer gern verteidigt.

Rassismus und Antisemitismus …

Den Münchner Professor François Bry könnte man für einen Franzosen halten. Das nimmt er wahrscheinlich niemandem krumm, schließlich ist er französischer Staatsbürger.[1] Was er dann aber doch krumm nimmt, ist, wenn jemand das zum Anlass für Wir-Die-Unterscheidungen nimmt, noch dazu, wenn ihm Eigenschaften zugesprochen werden, die darauf basieren sollen, dass er Franzose sei, und schließlich, wenn das auch noch negativ bewertete Eigenschaften sind. Völlig zu Recht geißelt er den Rassismus des folgenden Kommentars in seinem Blog:

„Es ist wirklich erstaunlich, wie ein Gast in diesem Land sich wirklich immer gegen das Land, gegen die Kultur und gegen die Menschen aufbringt. Wie sehr doch immer von Ihnen das gemaule und die Vorwürfe kommen.
Allgemein gilt unter den Studierenden, dass sie einer der unbeliebtesten Professoren sind, da ihre Lehre und ihre Prüfung nicht kohärent sind. Eine Ermahnung im Kollegium ist auch wenn sie allgemein gehalten sei sicherlich Ihnen geschuldet, da sie im Institut numal der Querschießer sind, der sich gegen alles aufwiegelt.
Nichts über Vorurteile gegen Franzosen, aber Sie erfüllen leider diese und manchmal wäre auch auf Seiten eines verdienten Professors Mäßigung gefragt!“[2] (vgl. ursprünglichen Kommentarkontext[3])

Bry identifiziert in dem Kommentar prototypischen Rassismus.[2] Sicherlich könnte man sagen, dass es sich um Ethnizismus, Nationalismus oder Fremdenfeindlichkeit handele, doch Rassismus taugt da als Oberbegriff. Der Kommentator attestiert Bry, französisch zu sein. Bry, der deutsche Professor, deutsche Staatsangehörige,[1] antwortet neben der Kritik am Rassismus durch Zurschaustellung angeblich deutscher Eigenschaften: Pedanterie, Pflichtversessenheit und Nationalstolz (nicht zu vergessen die passiv-aggressive „Klartext“-Attitüde, die man inzwischen auch als Deutschheitsausweis verwenden kann, gern genutzt von Kanzlerkandidaten, Underdogs und Literaturnobelpreisträgern auf Weltrettungsmission).

Das tut Bry nicht ohne Selbstironie, unterstrichen dadurch, dass er den Nationalstolz darauf baut, wie wenig rassistisch Deutschland sei:

„Rassismus habe ich in dreißig Jahren in Deutschland nur drei Mal erlebt. Einmal hat mich ein Verkäufer gefragt, ob ich etwa in Deutschland lebe, weil mein Land keine Arbeit für mich hat. Kurz nach meiner Ernennung als Professor bekam ich einen antisemitischen Brief: Der Absender dachte offenbar, dass ein Ausländer, der in Deutschland Professor ist, ein Jude sein muss. Das dritte Mal war heute. Nur drei Mal in dreißig Jahren Rassismus erlebt zu haben, ist eine großartige Leistung – für Deutschland.“[2]

In der Tat sind antifranzösische Ressentiments selten geworden nach 1945. Aber mögliche Feindbilder gibt es ja genug, da kann man schon mal frankophil werden. Bezeichnend etwa, dass sich der von Bry erfahrene Rassismus nur diesmal ausdrücklich gegen Franzosen richtete, beim ersten Mal gegen Ausländer allgemein, beim zweiten Mal gegen Juden. Etwas überraschend ist hingegen, dass es unter Brys Blogposts eine Weile dauerte, bis jemand bestritt, dass es sich bei dem Kommentar um Rassismus handele. Derartiges wird nämlich gern und ausschweifend bestritten:

… gibt’s doch gar nicht …

Wenn etwa die Analyse eines konkreten Artikels über „Bankenmoral“ in einer Lokalzeitung ergibt, dass dabei mit einem wohlbekannten Fundus antisemitischer Stereotype rund um das „christliche“ Zinsverbot und die „unchristliche“ Wucherei gespielt wird (und wie das zugrundeliegende soziodiskursive System funktioniert), was „einen üblen Nachgeschmack hinterlässt“, dann kann man fast sicher sein, dass die Kommentare betonen werden, dass

  1. die Antisemitismusdiagnose oftmals „leichtfertig“ gestellt und zu missliebigen Zwecken instrumentalisiert werde,
  2. sich daher die Auseinandersetzung mit diesem Befund per se erübrige (denn wo der Junge einmal „Wolf“ schrie, kann ja nie wieder ein Wolf erscheinen, das lehrt doch die Fabel, oder?);
  3. die ausführliche kulturhistorische Kontextualisierung des Zinsverbots aus wirtschaftswissenschaftlicher(!) Sicht abwegig sei,
  4. moderner Antisemitismus jedoch „auf der Tatsache aufbauen“ könne, dass die Wall Street fest in der Hand von Juden sei und (Zitat!) „sich insoweit deren durchaus spezielle jüdische Moral im Finanzsystem spiegelt und sich eben dieses US-amerikanische Finanzsystem sich immer offensichtlicher als (auf Sand gebaute) Umverteilungspumpe und Ausbeutungsmaschinerie erweist“,
  5. obwohl Antisemitismus „kaum wahrnehmbar“ sei, er dennoch berechtigt sei, weil bedingt durch „eine unseelige Kombination aus jüdischer Arbeitsmoral und Indoktrination“.

Insbesondere in „christlichen“ und (national) „sozialen“ Kreisen steht die Münze Antisemitismus unverändert hoch im Kurs. Da macht es wenig, dass sie nur ausnahmsweise auch offiziell notiert wird: Als Gegenwährung ist sie konkurrenzlos. „Das Spiel ist aus, Juden“ zieht als vermeintliche Parole von „Occupy Wall Street“ besonders gut, nachdem man „die Juden“ als verschlagene Weltherrscher und die „99 Prozent“ als ihre Opfer dargestellt hat.[4] Wie verbreitet Antisemitismus ist, lässt sich an detaillierten Meinungsumfragen festmachen, die etwa 2010 ergaben, dass 16,4% dem Satz „Juden haben in Deutschland zuviel Einfluss“ zustimmten und 12,5% dem Satz „Durch ihr Verhalten sind die Juden an ihren Verfolgungen mitschuldig“.[5]

Verglichen mit anderen Ausprägungen Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit liegt das etwa im Bereich von Rassismus (der in der Studie nicht unbedingt als Oberbegriff zu verstehen ist), aber weit hinter Fremdenfeindlichkeit (49,4% für „Es leben zu viele Ausländer in Deutschland“) und speziell Islamophobie (38,9% für „Durch die vielen Muslime hier fühle ich mich manchmal wie ein Fremder im eigenen Land“).[5] Das sind freilich die Ergebnisse einer nicht-anonymisierten Befragung, wobei die gestellten Fragen zudem recht unmittelbar erkennen ließen, worauf sie hinauswollten. Die empirische Vorurteilsforschung kennt aber gerade bei einer solchen Konstruktion die Wirkung eines besonderen gesellschaftlichen Tabus: Antisemitische Haltungen werden in Deutschland nach wie vor eher verborgen als offen bekannt. Unter weniger „direkten“ Interview-Bedingungen ergibt sich daher regelmäßig ein anderes Bild.

Solche „Mentalitäten“ sind also mehr oder weniger gut messbar. Sie verstärken sich in Diskursen, in denen sie anschlussfähig sind. Gemeinsam auf „die“ zu schimpfen macht doch gleich viel mehr Spaß. Beim Gemeinschaftserlebnis des Schimpfens bleibt es auch meist, wenn man nicht gerade mit Rechtsextremisten gemeinsam schimpft: Von den über 80 antisemitischen Anschlägen auf Synagogen 2008-2012 (vor allem Sachbeschädigungen und Nazi-Schmierereien) gehen weiterhin über 90 Prozent auf das Konto von Rechtsextremisten. Andere Antisemiten, also vor allem Linke, Muslime und Christen, reden lieber.

… und wenn dann nicht bei uns.

Doch Sprechakte sind in einer modernen Kommunikationsgesellschaft keine leichthin zu vernachlässigende Größe. Nichtphysische Feindseligkeitsmanifestationen können durchaus schwerwiegende Folgen haben – beispielsweise wenn die fremdenfeindlichen 49,4% ihrer Meinung durch das Ankreuzen fremdenfeindlicher Parteien auf dem Wahlzettel Ausdruck verleihen. In AfD oder CSU zum Beispiel kann man gewiss Mehrheiten dafür finden, bei Arbeitsplatzknappheit „die in Deutschland lebenden Ausländer wieder in ihre Heimat zurück[zu]schicken“, was insgesamt 24,4% befürworten.

Aber natürlich nicht in Merkels CDU. Da kennt man ja inzwischen die demographische Herausforderung so gut, dass für den nächsten Parteitag eine Umbenennung in Christlich Demographische Union beantragt sein soll – auch um der Schwesterpartei entgegenzukommen, die mit dem alten D nichts mehr anfangen kann. Auch antisemitische Parolen sind bei der christlichen Partei nicht hoffähig, dafür steht nicht zuletzt die Schirmherrin des christlich-jüdischen Dialogs, Annette Schavan, die vor wenigen Monaten den Abraham-Geiger-Preis dafür erhielt, „die Etablierung einer jüdischen Theologie in der Hochschullandschaft der Bundesrepublik“ betrieben zu haben.[6] Dabei böten sich in ihren christlichen Kreisen so viele anschlussfähige antisemitische Diskurse mit langer Tradition:

„Der christliche Antijudaismus wird von Seiten der Kirche im Mittelalter theologisch begründet. Christen verstanden sich als Empfängerinnen der wahren göttlichen Offenbarung. Die Juden würden sich dem göttlichen Heilsplan entziehen, da sie nicht an Jesus Christus glauben, sie seien also Ketzer und Gottlose. […] Neben Identifizierung und Abgrenzung, wurden vor allem wirtschaftliche und politische Gründe für das Ressentiment herangezogen. Typische antijudaistische Motive sind der Vorwurf des Christusmords und des Ritualmordes an christlichen Kindern, des Hostienfrevels, der Brunnenvergiftung und der Wucherei.“[7]

Teilweise sind diese Motive nur noch metaphorisch in die Lebenswelt der Gegenwart zu transportieren. Bei Wucherei funktioniert es, wie oben gesehen, aber sehr gut. Ansonsten gilt heute eher:

„Der Antisemitismus nach 1945 bedient sich häufig des alten Motivs der ‚jüdischen Weltverschwörung‘: Jüdinnen und Juden würden ‚hinter den Kulissen‘ Wirtschaft und Politik nach ihren Interessen leiten. […] Mit Hilfe des Antisemitismus wird versucht, komplexe gesellschaftliche Probleme (scheinbar) verständlich zu erklären. Die einfache Erklärung für schwierige Zusammenhänge lautet dann: ‚Die Juden sind schuld.‘ […] Die Selbstaufwertung durch die Ausgrenzung anderer teilt sich der Antisemitismus mit dem Rassismus. Spezifisch für den Antisemitismus ist die Welterklärungsfunktion, die sich beispielsweise in antisemitischen Verschwörungstheorien zeigt und die Angstbesetzung der antisemitischen Imagination: Der Antisemit fühlt sich häufig ‚den Juden‘ unterlegen und hat Angst vor ihren ‚geheimen Mächten‘.“[7]

Die Feinde des Glaubens …

In der katholischen Kirche des Städtchens Erbach an der Donau erfreut ein prächtiges Deckengemälde die Gläubigen. Es zeigt die römische Dankprozession nach der Seeschlacht von Lepanto (1571), in der eine „Heilige Allianz“ christlicher Mächte die türkischen Glaubensfeinde besiegt hatte. Der Wahlkampf im christlichen Südwesten führte auch die plagiatsbelastete Kandidatin Schavan nach Erbach. Die Lokalpresse berichtete, es gehe ihr „nicht mehr um die Frage, wie gedemütigt ich mich fühle“. Auch Schavans Schlacht, so deutet es die Stuttgarter Zeitung, drehe sich – wie die von 1571 – „um Glaubensfestigkeit“ und „um den ersehnten Triumph über Ungläubige“.[8] Das Evangelium, um dessen Echtheit sie den Glaubenskrieg führe, sei ihre Dissertation. Markant war Schavans Ausspruch aus Ehingen Anfang September:

„Ich kann denen doch nicht auch noch den Gefallen tun, dass ich daran zerbreche.“[8]

Aufgrund des großen Erfolges von derlei Andeutungen variierte sie die Aussage bei Wiederverwertung (eine ihrer leichtesten Übungen) in Hechingen Mitte September:

„‚Ich finde meine Dissertation auch nach wie vor gut‘, betonte sie. Vorzuwerfen habe sie sich auch bei genauerem Nachdenken nichts. Und ‚ich tu denen nicht den Gefallen, daran zu zerbrechen‘, betonte Schavan als Schlusssatz zu diesem Thema. Das Publikum quittierte diese Aussage mit einem langen Applaus.“[9]

Für Schavan und ihre Zuhörer versteht es sich offenbar ohne weiteres, um wen es sich bei „denen“ handelt: Offenbar geht es um „Ungläubige“, um Feinde, denen sie nur einen Gefallen täte, wenn sie zerbrechen würde. Sie aber ist im Glauben stark, und in dieser Glaubensstärke weiß sie die Gläubigen um sich zu scharen: Der Feind ist bösartig verschlagen, die eigene Sache aber fromm und gerecht. Mehr ist in der Sache nicht zu sagen. Langer Applaus aus dem Publikum.

Denn ihr Publikum glaubt offenbar auch, dass Schavans Doktortitel nicht zu Recht entzogen wurde,[9] und dass es das ursächliche Motiv für den Doktorentzug war, Schavan zu demütigen und zu zerbrechen. Daher applaudieren sie gern.

… in den Augen des politischen Katholizismus …

Bei dezenten Andeutungen und einem mitgerissenen Publikum bleibt es im südwestdeutschen Wahlkampf. In dem geistigen Milieu jedoch, in dem Schavan beheimatet ist, gedeihen hin und wieder Blüten, die auf allerhand gärenden Sumpf schließen lassen. Man nennt dieses Milieu wohl in teilweise bewusstem Anachronismus „politischen Katholizismus“. Der bekannte CDU-Forscher Gerd Langguth beklagte schon vor Beginn der Schavan-Affäre, dass den Katholiken das politische Personal ausgehe.[10] Nach Schavans Rücktritt saß im Bundeskabinett dann nur noch ein Katholik auf einem CDU-Ministersessel.[11] Diese Belagerungsstimmung und das Gefühl, zu kurz zu kommen, ist typisch für den politischen Katholizismus – gerade so, als wäre immer noch Kulturkampf. Papst Benedikt XVI. hingegen begrüßte die Befreiung der Katholiken von den „politischen Lasten“ und wünschte schon 2011, die katholische Kirche könne nun „wirklich weltoffen sein“.[10]

Ungefähr so klingt das zunächst auch, wenn man sich im katholischen Internet ein wenig umschaut. Ein inzwischen eingestelltes „Politikforum und Theologieforum auf christlicher Grundlage“ stellt einen besonders reichhaltigen Schatz an Einsicht bereit. (Die folgende Recherche glättet die forentypische Sprechweise leicht; Abkürzungen wurden ausgeschrieben, erklärende Links ergänzt u.ä.; je markanter die Position, desto originalgetreuer die Wiedergabe.) Dort diskutierten 2012 zum Thema „Schavans Doktorarbeit ein Plagiat?“ einige Benutzer, die sich mit folgenden politisch/religiösen Profilen auswiesen:

  • christlich-sozial/Römisch-Katholisch
  • katholische Soziallehre/röm. katholisch
  • Demokratisch/Römisch-Katholisch
  • Ökologisch/Römisch-Katholisch

Im Umfeld ließen sich auch wie folgt ausgewiesene Profile finden, spielten aber in der Diskussion keine Rolle:

  • Sozialistisch/Röm. kath.
  • Sozialdemokratisch/Reformiert
  • Keine/Keine Angabe

… erweisen sich als Stasi-Kommunisten, Aufklärer-Verräter, Juden-Freimaurer und Ketzer-Verschwörer

Eine bunte Mischung römisch-katholischer Varietäten also diskutiert „wirklich weltoffen“ über Gott und Politik, und auch wer nicht so ganz dazugehört, kommt nicht gleich ins Autodafé. Zweifel, dass etwas dran sein könnte an den Plagiatsvorwürfen, gibt es gleich Anfang Mai 2012, begründet mit folgendem Argument:

Bereits in Baden-Württemberg wurde Schavan „gemobbt“ von der Oettinger-CDU, sie sei eine „Lesbe“. Jetzt nehmen „interessierte Kreise“ ihre Doktorarbeit mit hahnebüchenen Argumenten auseinander. Ich verabscheue diese „Stilmittel“ in der politischen Auseinandersetzung.

Trotz der gewählt platzierten Anführungszeichen entschloss man sich, erstmal abzuwarten, „was am Ende für Fakten dabei herum kommen“ und fragte gespannt: „Werden die Düsseldorfer was finden?“ oder „Warum dauert das denn so lange?“ Als es im Oktober 2012 zur Sache ging, hieß es dann:

Für Frau Bundesministerin Dr. Annette Schavan gilt die Unschuldsvermutung bis zum Beweis des Gegenteils. Aber sehr passend: die Nachfahren von Gestapo und Stasi spitzeln und bespitzeln, denunzieren und verraten gerne – nur heute heißt das „Aufklärung“ und „Transparenz“. Boah is‘ mir schlecht …

Aus christlich-sozial-römisch-katholischer Sicht gab es zu diesem Zeitpunkt also widerliche „interessierte Kreise“, die von Gestapo und Stasi abstammen, und denen Bespitzelung und Verrat daher im Blut liegen. Aber man kann nicht sagen, dass die Meinungsvielfalt nicht gewahrt bliebe:

Mir ist Schavan sehr unsympaththisch geworden, als sie seinerzeit während der Guttenbergaffäre wochenlang feige geschwiegen hat, obwohl alles bereits offensichtlich war und es ihres Amtes gewesen wäre, die gute wissenschaftliche Praxis zu beschützen. […] Mir ist die Ablehnung des Plagiierens von klein auf eingeschärft worden. Prof. Ewald Standop ist mein verehrter sprachwissenschaftlicher Lehrer und hat ein weithin bekanntes Buch zum wissenschaftlichen Arbeiten publiziert; spätestens in den siebziger Jahren kannte es an der Universität fast jeder. Schavan konnte über die Gepflogenheiten auf diesem Gebiet Bescheid wissen, als sie Guttenbergs Betrügereien so langzeitlich beschwieg, soviel ist sicher.

Auch in katholischen Foren kommt also zur Sprache, dass Plagiate nicht als Zeugnisse christlicher Nächstenliebe dienen können, wie man sie erkennt, und welche Argumente noch einschlägig sein könnten. Auch die massenmediale Debatte kommt in der Folge kaum über diesen Stand vom 16. Oktober 2012 hinaus. Doch gegen die Erwägung, „interessierte Kreise“ würden der Bildungsministerin nachstellen, hat man in dem Forum ebensowenig einzuwenden wie anderswo. Und zum Glück hat ein Diskutant am nächsten Morgen (also schon bald nach der FAZ) eine Offenbarung, wie das alles zusammenpasst mit den interessierten Kreisen, Nazis, Stasi und Verrätern:

Tja, Freunde, es ist zwar traurig, aber es steht zu befürchten, daß wir ein weiteres prominentes Giordano-Bruno-Stiftungs-Opfer vor uns haben! [Die GBS ist eine kirchenkritische Organisation, benannt nach dem 1600 auf dem Scheiterhaufen verbrannten „Ketzer“.] Wundert ja auch nicht, wenn es um eine katholische Bundesbildungsministerin geht. Herr Prof. Dr. Stefan Rohrbacher, der die Plagiatsvorwürfe gutachterlich anführt und so eine ganz, ganz blöde „Vertrauensschutzlücke“ hat, hat 1998 dieses Buch veröffentlicht:

Co-Autor ist ein Herr Michael Schmidt, klingt zwar wie John Doe, ist aber der leitende Geschäftsführer und Oberguru der Giordano-Bruno-Stiftung, Michael Schmidt-Salomon, unter anderem Autor von

Also, läßt sich konstatieren, soll gerade durch ein Plagiatsverfahren eine mißliebige, katholische „Doofe“ desavouiert und abgeschossen werden! Cool! [Einschub als Selbstgespräch:] (Ach was, Du immer mit Deinen Verschwörungstheorien, das ist reine „Synchronizität“ … oh glückliche Wissenschaft, oh glückliche Aufklärung 2.0.) Da muß ich jetzt aber leider noch mal meinen beliebten Link zum Potsdamer Handbuch der „bewährten und berüchtigten Kampftechniken“ gutdeutscher Tradition setzen (Link auf MfS-Richtlinie 1-76 zur Anwendung von Stasi-„Zersetzungsmaßnahmen“ gegen Staatsfeinde der DDR).

Zusammenfassung: Der Forist (mit den Befugnissen als „Super-Moderator“) hat festgestellt, dass es eine Verschwörung von Ketzern, Juden und Kommunisten (also allen Feinden des wahren Glaubens) zur Vernichtung von Annette Schavan geben muss. Dafür trägt er wie gesehen drei Indizien vor:

  1. Gutachter Stefan Rohrbacher hat ein Buch über antijüdische Mythen und antisemitische Vorurteile geschrieben.
  2. Michael Schmidt hat zusammen mit Stefan Rohrbacher 1991 an diesem Buch gearbeitet.
  3. Michael Schmidt-Salomon, Vorstandssprecher der GBS, ist ein Religionskritiker.

Um daraus eine Verschwörung zum Schaden von Annette Schavan plausibel zu machen, muss man folgende unausgesprochenen Prämissen einbeziehen:

  1. Michael Schmidt und Michael Schmidt-Salomon sind ein und dieselbe Person.
  2. Michael Schmidt-Salomon ist Jude, schließlich ist Salomon ein jüdischer Name.
  3. Der Jude Michael Schmidt-Salomon ist mit dem Juden Stefan Rohrbacher bis heute verbunden.
  4. Dieses Bündnis, das der Agenda von Schmidt-Salomon als Sprecher der GBS folgt, zielt auf die Verdrängung von Katholiken aus der Politik.
  5. Rohrbacher versucht dies dadurch zu erreichen, dass er in Schavans Dissertation Plagiate findet und diese Funde heimlich an die Presse gibt.
  6. (Weitere Hintergrundannahmen über die Böswilligkeit von Juden, Religionskritikern, Ketzern, Wissenschaft, Aufklärung und Stasi.)

Kurz darauf legt der Forist, dem es im heiligen Rechercheeifer wie Schuppen von den Augen fällt, nach:

Und warum findet man diese „Connection“ [zwischen Rohrbacher und Schmidt-Salomon] weder hier: (Autorenübersicht der DNB zu Schmidt-Salomon), noch hier: („Salomons Homepage“) aber dort: (Wikipedia-Artikel Ritualmordlegende)???

  • Stefan Rohrbacher, Michael Schmidt: Judenbilder. Kulturgeschichte antijüdischer Mythen und antisemitischer Vorurteile. Rowohlt, Reinbek 1991, ISBN 3-499-55498-4 (S. 269–291: Ritualmord und Hostienfrevel; S. 304–368: Die Barbarei längst verflossener Jahrhunderte)

Um die unausgesprochenen Prämissen zu verstehen, empfiehlt es sich, diese Frage nach der mafiösen „Connection“ und ihrer noch mafiöseren Verschleierung zu beantworten, bevor die Inquisition weitere Fragen stellt. Denn bisher sieht doch alles so aus, als ob die Deutsche National-Bibliothek und die Homepage von „Salomon“ von allen Spuren befreit wurden, die auf Rohrbacher hindeuten könnten, während die „aufklärerischen“ Verschwörer in der Wikipedia weiter die Propaganda zum Schaden der guten christlich-sozial-römisch-katholischen Deutschen verbreiten, indem sie dort behaupten, Antisemiten hätten „Ritualmordlegenden“ erfunden, um Juden rassistisch zu verfolgen und schließlich auszurotten.

Der aufmerksame Beobachter ist vielleicht schon darauf gekommen, was dem Foristen hier entgangen sein könnte: Die unausgesprochene Prämisse Nr. 1 ist falsch, und damit fällt die ganze Konstruktion in sich zusammen. Der Name Michael Schmidt klingt nicht nur wie John Doe oder Otto Mustermann, es gibt auch eine ganze Reihe Namensträger, und in der Wikipedia bislang nichtmal den 1952 geborenen Michael Schmidt, dessen zahlreiche Werke die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet. Doch kann man sicher sein, dass es sich dabei auch wirklich um den Michael Schmidt handelt, der 1991 mit Rohrbacher ein Buch veröffentlicht hat[12] und heute an der Universität Tromsø wirkt, aber kein Soziologe ist, wie die DNB behauptet?

Aber es passt doch alles so gut zusammen! Gegenüber dem Schriftenverzeichnis der DNB hat die Argumentation des Foristen dabei noch den Vorzug, dass sie sich gerade durch Widersprüche vollends bestätigt sehen darf. Wenn auf Seiten von Michael Schmidt-Salomon die „Connection“ zu Stefan Rohrbacher verleugnet wird, während sich anderswo bestätigt findet, dass Stefan Rohrbacher mit Michael Schmidt unter einer Decke steckt, dann beweist das doch die Verwirrungs- und Verschleierungstaktik nach Stasi-Manier!

Und wer dann solche Bilder 1991 kritisch beleuchtet: („Der Stürmer“: Ritualmord-Sondernummer, Mai 1939 [aus Judenbilder, 1991, S. 355]) – Wie kommt der dann dazu, das staunende Publikum im Jahre 2012 anläßlich der Beschneidungsdebatte mit solch einer Karikatur zu „erfreuen“? (Abbildung auf der Seite der GBS)

Dem geneigten Leser ist nun leider der Spaß verdorben, da die Einsicht schon gedämmert sein dürfte, dass es keine personelle Überschneidung zwischen diesen beiden Beispielen antijüdischer Propagandaabbildungen (mal als nationalsozialistische Neuauflage des christlichen Antijudaismus aus Bavaria Sancta III von 1627, mal als modern-antisemitisches Heimliche-Herrscher-Motiv im Verbund mit muslimischen und katholischen „heimlichen Herrschern“ 2012) gibt. Auch im katholischen Forum gibt es noch skeptische Nachfragen:

Versteh ich nicht. […] Welche Beziehungen genau bestehen zwischen Rohrbacher/Salomon und der Stasi? (Dass die GBS moralisch auf wackligem Boden steht, ist ja nicht neu. Aber hier sind mir die Beziehungen noch nicht so ganz deutlich.)

Dem Unverständnis kann abgeholfen werden, sofern sich der Ungläubige nicht gegen die Erkenntnis der Wahrheit sträubt. Hilfreich zeigt sich hier der Forist mit dem Profil „katholische Soziallehre/röm. katholisch“. Wer sehen will, der sehe:

Die Beziehung besteht in der Einheit der Methode: Zersetzung. Eine perfide Technik, die die Gehirne benebelt und vertuscht, welchem Pferd man hinterher rennt.

Die Verbindung ist offensichtlich. Doch perfide Stasi-Zersetzung hat die Ziele vertuscht, denen Schavan-Gutachter Rohrbacher im Verbund mit Michael Schmidt-Salomon hinterher rennt: Wer trotz der bestechenden Beweise nicht erkennt, dass die ganze Aktion dazu dient, die letzte katholische Ministerin mit Einfluss im Kanzleramt „zu zerbrechen“, zu welchem Zwecke jedes Mittel recht ist, dem ist doch nicht mehr zu helfen. Der rote Diskutant ist trotzdem nicht ganz überzeugt:

Das wäre eine sehr weite und wolkige Beziehung. Warten wir ab, was die genauere Prüfung ergibt.

Denn aus eigener leidvoller Erfahrung weiß er, dass es Plagiatoren gibt, und auf Schavanplag, da kann man sich ja anschauen, was angeblich in der Doktorarbeit drin steht. Der rote Diskutant ist ein kritischer Geist und durchaus nicht bereit, alles unbesehen zu glauben, was ihm vorgesetzt wird. Aber die entscheidenden Prämissen einer jüdisch-freidenkerisch-antikatholischen Verschwörung, die hat auch er umstandslos akzeptiert: Dass Michael Schmidt und Michael Schmidt-Salomon ein und dieselbe Person sind, dass der Kirchenkritiker Michael Schmidt-Salomon Jude und im Bunde mit seinem Glaubensgenossen, dem Judaisten Stefan Rohrbacher ist, und dass dieser im Plagiatsverfahren der gemeinsamen Agenda gefolgt ist, denn damit soll „eine mißliebige, katholische ‚Doofe‘ desavouiert und abgeschossen werden!“

Es ist gar kein so entlegener Sumpf, in dem solche Blüten sprießen. Viele tummeln sich da. Er ist Teil einer Welt, in der alles Ungemach, das über die Gläubigen kommt, von verschworenen Feinden über sie gebracht wurde. In der man unter allen Umständen fest bleiben muss im Glauben und am Ungemach nicht zerbrechen darf, weil man sonst nur den Feinden einen Gefallen tut. In der man sich dafür des Beifalls und Beistands der Gläubigen sicher sein darf.

Nachtrag, flüsternd

Vielleicht ist ja auch alles ganz anders. Vielleicht hat alles schon viel früher angefangen. Glücklicherweise gibt es immer ein paar Leute, die richtig gut aufpassen. Schon im März 2011, kurz nach Guttenbergs Rücktritt, hat jemand folgende Beobachtung mitgeteilt:

Hat vielleicht irgendjemand heute um 18:10 Uhr das ZDF aufgezeichnet? Da redete live eine angebliche Frau Annette Schavan, die das gleiche Jackett, aber eine andere Brille trug wie die Annette Schavan, die gleichzeitig live in der ARD redete. Sie redete auch seltsam anders als die Echte. Ich habe dummerweise nur die im Ersten aufgenommen.[13]

Die Wahrheit ist irgendwo da draußen. Manchmal muss man glauben, um sie zu sehen.

————————————————————

9 Antworten zu “Jüdische Weltverschwörung, Abteilung für Plagiatsverfahren

  1. Pingback: Aus dem Plagiatsdiskurs gerissen: Jüdische Weltverschwörung, Abteilung für Plagiatsverfahren | zoom

  2. toller text! zu groß, um ihn zu kommentieren – nur der hinweis, daß michael [Schmidt-Salomon, nehme ich an. Um zusätzliche Personenverwirrung zu vermeiden: Erbloggtes] ein ganz ein lieber ist und das mit dem „oberguru“ nur stimmt, wenn man ihn nicht persönlich kennt und nicht an seinem küchentisch oder in seiner bibliothek gesessen hat.

    es ist halt sehr sehr sehr schwer, mit einer person (gerade über sein lieblingsthema) zu diskutieren und mitzuhalten, die dir ad hoc teile seiner bibliothek in ausufernden passagen zitiert, das kann einen schon fassungslos machen und dazu führen, daß man sich überrollt fühlt.

    es kann aber auch höchster genuss sein und ich tendiere zu letzterem.

    er ist kein eingebildeter guru, er hat’s einfach „drauf“ und ist „halt so“, wie er ist. ein liebenswürdiger zappa & gentle giants fan ohne große attitüde, mit einem wissen, angesichts dessen manch einer einfach nur noch neidgefühle artikulieren kann.

    ich persönlich denke (ach was, ich _weiss_ es), er hat sich das, was er jetzt ist, hart und fleissig erarbeitet, er hat etwas mitzuteilen und – wenn wir alle nur noch asche sind – wird man sich an ihn erinnern 😉

    bis dahin ist er der typ, der dich umarmt, wenn du ihn triffst.

    ein ganz ein lieber, wie gesagt.

  3. Danke für diese persönliche Eloge auf Michael Schmidt-Salomon! Nur damit das niemand missversteht: Die „unausgesprochenen Prämissen“ Nr. 1 bis Nr. 6 sind alle falsch, pure Phantasie (ja sogar das mit der Stasi).

  4. es wäre ja auch ein witz, wenn ein jude eine initiative auf die beine brächte, die sich IRA (initiative für religiöse abrüstung) nennt, um dann jedes jahr halbnackt mit einem schaumstoffkreuz auf dem rücken die trierer bevölkerung zu verunsichern, vom verbot seines „maria syndroms“ schon vor der ersten aufführung einmal abgesehen: man kann nur so heftig gegen den katholizismus in rage geraten, wenn man selbst ein katholik war 😉

    michael schmidt-salomon war immer ausgesprochen funny in der wahl seiner anarchistischen kleinen und großen sticheleien in der domstadt.

  5. Schöner Text!

  6. Pingback: Empfehlungen zur Qualitätssicherung – Teil 2: Öffentlichkeit | Erbloggtes

  7. Pingback: Rassismusbedingung: Rassismusleugnung | Erbloggtes

  8. Pingback: Das Jahr nach Schavans Rücktritt | Erbloggtes

  9. Pingback: Stimmen zum Schavan-Urteil | Erbloggtes

Hinterlasse einen Kommentar

Diese Seite verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden..