Zur Causa Reitzenstein: Wert und Bewertung

Erbloggtes hat neulich die widerstreitenden Behauptungen in einem geschichtswissenschaftlichen Konflikt überprüft.[1] Das Ergebnis war, kurz gesagt, dass die Wissenschaft selbst leidet, wenn ein Gericht zwischen wahr und unwahr entscheiden will. Das gilt besonders dann, wenn eine Partei den Rechtsweg scheut, weil sie an einer juristischen Klärung nicht interessiert ist. Das kann leicht passieren, wenn für eine Partei der Streitgegenstand unermesslich wertvoll ist, die möglichen Kosten dagegen gering, während es für die andere Partei nur um einen geringfügigen Streitgegenstand geht, dabei aber horrender Aufwand in Geld und Mühe droht. In einer solchen Situation wollte Rezensent Sören Flachowsky den Wahrheitsgehalt des folgenden Satzes nicht vor Gericht gegen den in seiner Ehre gekränkten Autor Julien Reitzenstein verteidigen:

„Bei der Betrachtung der Abteilungen von August Hirt und Sigmund Rascher verzichtet Reitzenstein mit Blick auf die Forschungslage auf eine Darstellung der Verbrechen, was aber angebracht gewesen wäre.“[2]

Vergleichsweise harmlose Kritik

Daher reichte die – sachlich fragwürdige[1] – Eilentscheidung des Landgerichts Hamburg, um ihn zu verbieten. Den verbotenen Satz haben die Hamburger Richter also etwa auf eine Stufe mit präsidialer Präferenz fürs Ziegenficken gestellt. Vorläufig muss er demnach als wesentlich schlimmer gelten als die folgenden vom Landgericht Hamburg ausdrücklich erlaubten Sätze:

„Sackdoof, feige und verklemmt,
ist Erdogan, der Präsident. […]
Er ist der Mann, der Mädchen schlägt
und dabei Gummimasken trägt.“[3]

Doch die Causa Reitzenstein wollte durch die gerichtlich erzwungene Löschung des beanstandeten Satzes kein Ende finden:

„Nachdem dies umgesetzt und in einer Redaktionsnotiz an der Rezension dokumentiert war, erreichten Anfang November 2016 die Redaktion von H-Soz-Kult und Flachowsky neue Aufforderungen durch Reitzensteins Anwaltskanzlei, weitere Unterlassungsverpflichtungserklärungen abzugeben.
Es ging u.a. um zwei weitere Passagen in der Rezension, deren Wiederholung nun untersagt sein sollte. Die Redaktion von H-Soz-Kult kann nicht ausschließen, dass Herr Reitzenstein sich jetzt bemüht, in einzelnen, kostenträchtigen Verfahren sämtliche gewünschten Änderungen per Unterlassungsverpflichtungserklärungen bzw. gerichtlichen Entscheidungen gegen unseren Rezensenten durchzusetzen.“[4]

H-Soz-Kult nahm daraufhin die ganze Rezension offline (was nicht klappt, weil in diesem Internet ja alles mehrfach vorhanden ist) und publizierte nun die Darstellung der Causa Reitzenstein aus ihrer Sicht[4] sowie eine „Stellungnahme“ der für H-Soz-Kult mitverantwortlichen Professoren Michael Wildt und Rüdiger Hohls.[5] Wildt ist außerdem Experte für das Thema, Reitzenstein hat ihn in seinem Buch mehrfach zitiert. Und er ist der Chef des Rezensenten Sören Flachowsky, 2005 promoviert mit einer Arbeit über Wissenschaftspolitik im Nationalsozialismus,[6] thematisch ausgewiesen auch als Autor des NDB-Artikels zu Reitzensteins Protagonist Sievers.

Die Redaktion von H-Soz-Kult bedauert die „Verlagerung einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung auf den juristischen Weg“ und beklagt den dadurch „aufgebauten Druck, dem weder der [ehrenamtlich arbeitende] Rezensent noch eine ehrenamtlich arbeitende Redaktion auf mittlere Sicht standhalten können und wollen.“[4] Anders gesagt: In einer Welt von wissenschaftlichen Idealisten, die kein Geld mit ihrer Arbeit verdienen, kann jeder, der wirtschaftlich abgesichert und bereit ist, etwas Geld für juristisches Vorgehen in die Hand zu nehmen, seine Auffassung gerichtlich durchsetzen und gegenteilige Positionen unterdrücken. Dazu später mehr.

Vorausgesetzt natürlich, man ist bereit, die ungeschriebenen Gesetze des Berufsstandes der Historiker zu ignorieren und legt demnach auch keinen Wert auf die Anerkennung in dieser Fachöffentlichkeit. Reitzenstein ist mit dieser Aktion zweifellos bei einigen Leuten, auf die es ankommt in der deutschen Geschichtswissenschaft, unten durch. Statt der Verwicklung in eine leichte Kontroverse mit einem anderen promovierten Historiker, die er durch eine Replik auf H-Soz-Kult hätte haben können, und die wahrscheinlich eher förderlich für Bekanntheit und Karriere in der Geschichtswissenschaft gewesen wäre, hat er sich nun einen strengen Verweis von wichtigen und gut vernetzten Institutionen eingehandelt: So benimmt sich nicht, wer gern Historiker genannt werden will. Das scheint die intuitive Reaktion der meisten Historiker zu sein, jedenfalls auf Twitter.

Kritikwürdige „Stellungnahme“

Hinzu kommt die „Stellungnahme“ eines führenden Experten für das Thema, Michael Wildt, und eines weiteren einflussreichen Professors, Rüdiger Hohls: Es handelt sich dabei im Wesentlichen um ein sinngemäßes zustimmendes Referat der ursprünglichen Rezension Flachowskys. Eine Synopse ausgewählter Stellen der [bereits um jenen Satz gekürzten] Rezension Flachowskys und der Stellungnahme Wildts und Hohls macht das deutlich:

Synopse
Flachowsky 2016 Wildt/Hohls 2017
Reitzenstein befasst sich in seinem Buch, das auf eine Dissertation an der Universität Düsseldorf zurückgeht, mit der Genese des „Instituts für wehrwissenschaftliche Zweckforschung“ (IWZ), das aus dem „SS-Ahnenerbe“ hervorging, und stößt damit in das bisher weitgehend unbekannte Zentrum einer entgrenzten Wissenschaft vor. Während das „Ahnenerbe“ in den letzten Jahrzehnten immer wieder im Fokus der Forschung stand, fehlte in der Tat bislang eine Untersuchung des IWZ. Zunächst stellte Flachowsky in seiner Rezension fest, dass sich die Studie Reitzensteins mit der Genese des ‚Instituts für wehrwissenschaftliche Zweckforschung‘ (IWZ), das aus dem ‚SS-Ahnenerbe‘ hervorging, beschäftige und sich damit einer bisher weitgehend unbekannten Einrichtung der entgrenzten Wissenschaft widme. Während das ‚Ahnenerbe‘ in den letzten Jahrzehnten immer wieder im Fokus von Forschungen gestanden habe, habe es bislang an einer Untersuchung des IWZ gefehlt.
Beim Aufbau der neuen Strukturen ging Sievers allerdings keineswegs systematisch vor, sondern ließ sich von Zufällen und persönlichen Interessen Himmlers leiten. Doch war die medizinische Schwerpunktlegung nicht unbegründet, denn neben der Behandlung von Kriegsverletzungen zwangen vor allem hygienische Probleme an der Front und in den Konzentrationslagern zu neuen Wegen medizinischer Prophylaxe. Allerdings blendet Reitzenstein aus, dass Sievers kaum andere Alternativen offenstanden, als sich auf dem Gebiet der medizinischen Wehrforschung zu etablieren, da die kriegs- und rüstungsrelevante Forschung von den auf Hochtouren laufenden Netzwerken der Hochschul- und Ressortforschungsbereiche bereits abgedeckt war und das Ahnenerbe aufgrund seiner bis dahin einseitigen Ausrichtung schlichtweg den Anschluss verpasst hatte. Allerdings, so Flachowskys Interpretation von Reitzensteins Buch, scheint Sievers beim Aufbau der neuen Strukturen keineswegs systematisch vorgegangen zu sein, sondern ließ sich von Zufällen und persönlichen Interessen Himmlers leiten. Doch war die medizinische Schwerpunktlegung nicht unbegründet, denn neben der Behandlung von Kriegsverletzungen zwangen vor allem hygienische Probleme an der Front und in den Konzentrationslagern zu neuen Wegen medizinischer Prophylaxe. Allerdings kam man Flachowsky Einschätzung nur zustimmen, wonach Reitzenstein die Zeitumstände nicht ausreichend berücksichtige, denn Sievers standen kaum andere Alternativen offen, als sich auf dem Gebiet der medizinischen Wehrforschung zu etablieren, da die kriegs- und rüstungsrelevante Forschung von den auf Hochtouren laufenden Netzwerken der Hochschul- und Ressortforschungsbereiche bereits abgedeckt war und das Ahnenerbe aufgrund seiner bis dahin einseitigen Ausrichtung schlichtweg den Anschluss verpasst hatte.
Im Mittelpunkt des Buches stehen die zehn Abteilungen des IWZ, wobei sich Reitzenstein weniger auf die im Institut betriebenen Forschungen, als vielmehr auf den Auf- und Ausbau seiner Abteilungen, seine Vernetzungen und die damit zusammenhängenden SS-internen Entscheidungsprozesse konzentriert. Kaum eine der Abteilungen – von denen faktisch nur sechs arbeiteten – produzierten „verwertbare Ergebnisse“. Im Zentrum des Buches stehen die zehn Abteilungen des IWZ, wobei sich Reitzenstein weniger auf die im Institut betriebenen Forschungen, als vielmehr auf den Auf- und Ausbau seiner Abteilungen, seine Vernetzungen und die damit zusammenhängenden SS-internen Entscheidungsprozesse konzentriert hat (S. 77f.). Kaum eine der Abteilungen – von denen faktisch nur sechs arbeiteten – scheint für die NS-Kriegswirtschaft verwertbare Ergebnisse produziert zu haben.
Insgesamt gelangt Reitzenstein in zum Teil nicht ganz schlüssiger Anlehnung an neuere theoretische Konzepte zur „neuen Staatlichkeit“ des NS-Systems […] zu dem Befund, dass Sievers einer jener „Schnittstellenmanager“ des NS-Wissenschaftssystems war, die ihrer Führung eilfertig zuarbeiteten und dabei eine zum Teil mörderische Dynamik freisetzten. Der „strukturelle Erfolg“ bei der Etablierung des IWZ sei „in seiner Personalisierung auf die Person Sievers’ begründet“ gewesen und habe den Ausschlag dafür gegeben, dass sich das Institut Ende 1944 „auf einem guten Wege“ befand, „eine etablierte Forschungseinrichtung“ zu werden. Durch seine Kompetenzen als Sonderkommissar Himmlers habe sich damit gleichzeitig Sievers’ „Machtposition innerhalb der SS“ soweit ausgedehnt, dass er sich nicht nur gegenüber seinen Konkurrenten Oswald Pohl und Ernst-Robert Grawitz, sondern sogar gegenüber Himmler und der SS „emanzipiert“ habe. Dies sei nicht zuletzt darauf zurückzuführen gewesen, dass Sievers seit 1943 auch „einflussreiche“ Ämter außerhalb des Ahnenerbes – so etwa im Reichsforschungsrat (RFR) – eingenommen und auf diese Weise schließlich die „Wehrforschung des Deutschen Reiches“ koordiniert habe (S. 261, 302–307). In Anlehnung an neuere theoretische Konzepte zur ‚neuen Staatlichkeit‘ des NS-Systems ist Reitzenstein zu dem Befund gelangt, wonach Sievers zu jenen ‚Schnittstellenmanagern‘ des NS-Wissenschaftssystems gezählt habe, die ihrer Führung eilfertig zuarbeiteten und dabei eine zum Teil mörderische Dynamik freisetzten. Der ‚strukturelle Erfolg‘ bei der Etablierung des IWZ sei in der Ausrichtung auf die Person Sievers‘ begründet gewesen (S. 306) und habe den Ausschlag dafür gegeben, dass sich das Institut Ende 1944 auf einem guten Wege befand, „eine etablierte Forschungseinrichtung“ (S. 303) zu werden. Durch seine Kompetenzen als Sonderkommissar Himmlers habe sich Sievers‘ „Machtposition innerhalb der SS“ (S. 304) so weit ausgedehnt, dass er sich nicht nur gegenüber seinen Konkurrenten Oswald Pohl und Ernst-Robert Grawitz, sondern sogar gegenüber Himmler und der SS ‚emanzipiert‘ habe (S. 304). So habe Sievers seit 1943 auch einflussreiche Ämter außerhalb des Ahnenerbes – so etwa im Reichsforschungsrat (RFR) – eingenommen und auf diese Weise schließlich die „Wehrforschung des Deutschen Reiches“ (S. 261) maßgeblich mitkoordiniert.

Der Rest ähnelt dem hier Präsentierten in seiner Machart sehr, es gibt außerdem Absätze, die nur bei Flachowsky stehen, und andere, die nur bei Wildt/Hohls stehen. Daher reicht Obiges zur Diskussion aus:

Die beiden Professoren haben wiederholt, was der Rezensent geschrieben hatte – teilweise in indirekter Rede, mit sprachlicher Kenntlichmachung, dass es sich um Flachowskys Darstellung handle, teilweise mit längeren direkten Zitaten Flachowskys, gern ergänzt durch Zustimmungsformeln wie etwa „teilen wir Sören Flachowskys Einschätzung“. Teilweise allerdings schreiben Wildt/Hohls auch dasselbe wie Flachowsky, machen ihre Abhängigkeit aber nicht kenntlich, beispielsweise im dritten oben zitierten Abschnitt, der mit „Im Mittelpunkt“ bzw. „Im Zentrum“ beginnt.

Das kann man nun kritisieren, weil es nicht transparent ist und damit verunklart, wer was gesagt hat. In der offenen wissenschaftlichen Debatte ist es aber jederzeit wichtig, nachvollziehen zu können, wer was gesagt hat. Streng genommen sind solche Stellen plagiiert. Flachowsky wird sich daran wohl nicht groß stören, aber darum geht es nicht. Wildt und Hohls lassen es von der H-Soz-Kult-Redaktion, deren Teil sie sind, so darstellen, dass sie „sich nach Lektüre der Rezension von Flachowsky sowie von Reitzensteins Buch entschlossen [haben], eine eigenständige Bewertung des Buchs unter Einschluss einer inhaltlichen Zusammenfassung der Rezension zu verfassen“.[4]

Die Zusammenfassung der Rezension ist, im Sinne einer Wiedergabe mit ein paar Auslassungen, vorhanden. Die Bewertung des Buchs eigenständig zu nennen, wo sie sich ständig Flachowsky anschließen, seine Ausführungen übernehmen und referieren, ist allerdings eher irreführend. Letztlich veröffentlichen sie Flachowskys Rezension den wesentlichen Inhalten und Formulierungen nach nochmal unter eigenem Namen. Das ist kein Plagiat, insofern sie ihre Abhängigkeit von Flachowsky wieder und wieder deutlich machen (auch wenn sie das Ausmaß ihrer Abhängigkeit zu gering darstellen und unhaltbare Ansprüche von „Eigenständigkeit“ erheben). Im wissenschaftlich wünschenswerten Sinne nachvollziehbar ist es jedoch auch nicht.

Das zugrundeliegende Problem

Diese Kritik an Wildt, Hohls und der H-Soz-Kult-Redaktion geht ein Stück weit natürlich auch auf das Konto Reitzensteins: Durch sein die wissenschaftliche Diskussion zerstörendes juristisches Verhalten hat er es überhaupt erst erforderlich gemacht, dass Flachowskys Rezension entfernt und durch eine wesentlich gleichlautende „Stellungnahme“ ersetzt wird. Wäre Flachowskys Rezension online geblieben, und Reitzenstein hätte in einem eigenen Statement alles bestritten, was ihm nicht passte, hätte es ja völlig ausgereicht, wenn die Redaktion erklärt hätte, dass sie an der Rezension festhalten und sich ihren Bewertungen anschließen. Selbst das wäre nicht nötig gewesen, es hätte ja jeder selbst entscheiden können, welcher Darstellung er zustimmt.

Die wissenschaftliche Diskussion mit Rede und Gegenrede, Argumenten und Einwänden, endet aber, wenn jemand mit der Axt auf den Tisch haut, oder mit dem Anwalt mindestens Kosten androht, die andere Teilnehmer an der Diskussion nicht tragen können oder wollen. Durch die Axt wie durch den Anwalt ist jeder verwundbar, der diskutieren will. Die Frage ist: Wie weh tut es? Dem wissenschaftlichen Mitarbeiter Flachowsky tut eine juristische Kostendrohung von mehreren tausend Euro offensichtlich zu weh, um zu einer Rezension, für deren Erarbeitung er kein Geld bekommen hat, zu stehen (und im Zweifelsfall für sie aufzukommen). Die Professoren Wildt und Hohls finden das Risiko offenbar erträglich, vielleicht sind sie auch gut rechtsschutzversichert.

Es gibt verschiedene strukturelle Lösungsmodelle für diese missliche Situation:

  • Es äußern sich nur noch Leute, die mit dem (juristischen, finanziellen) Gegenwind leben können, in der Öffentlichkeit. Wer das favorisiert, würde auch die Studierenden von Münkler-Watch „erbärmliche Feiglinge“ nennen.[7]
  • Anonymität wird für wissenschaftliche Rezensionen wieder weithin etabliert. Das bringt gewiss einige Probleme mit sich. Fachrezensionen werden nicht bezahlt, Wissenschaftler tun aber gern etwas für ihren „guten Namen“. Rezensieren sie auch ohne Namen? Zeitschriften brauchen eine Rechtsschutzversicherung, oder wie Wirtschaftunternehmen das Kapital hinter sich, das juristische Risiken trägt.
  • Zeitschriften stellen ihre Autoren frei von derartigen Kostenrisiken des Rechtswegs. Die Redaktion hat schließlich den Beitrag geprüft und freigegeben, das ist die Mindestbedingung für eine seriöse Zeitschrift. Zeitschriften brauchen dann eine stärkere Rechtsschutzversicherung, in der auch dieser Fall abgedeckt ist, oder entsprechend mehr Kapital.
  • Rezensionen werden künftig mit ca. 250 Euro pro Stück bezahlt. Etwa alle 10 Rezensionen haben Rezensenten also genug Geld erwirtschaftet, um an einen juristischen Querulanten zu geraten.

Die vorstehenden Lösungsvorschläge stellen natürlich ein Problem für die Open-Access-Kultur (und damit für die freie wissenschaftliche Diskussionskultur) dar. Als Lösung lässt sich anbieten: Die Buchverlage zahlen mit der Anlieferung eines Rezensionsexemplars 250 Euro an die Zeitschrift. Die kann davon eine Rechsschutzversicherung bezahlen, Kapital ansammeln oder die Rezensenten entlohnen. Zum Mindestlohn hätten diese dann immerhin 30 Stunden Zeit zur Arbeit an einer Rezension.

Kritikwürdiges Buch

Den nötigen Stoff für 30 Stunden Rezensentenarbeit böte Reitzensteins Buch durchaus. Davon kann sich jeder anhand einer 30seitigen Leseprobe ein eigenes Bild machen. Flachowskys Rezension, das kann dabei deutlich werden, war so freundlich, zu verschweigen, dass viele „Ausführungen Reitzensteins nicht nur als unglückliche, sondern als problematische Formulierungen einzuschätzen“[5] sind. Dass Flachowsky das angemerkt habe, suggerieren Wildt und Hohls zwar, es stimmt aber nicht. Flachowsky fand bloß eine Behauptung Reitzensteins problematisch und eine Sicht(weise) korrekturbedürftig.

Das verbreitete Unglück von Reitzensteins Formulierungen geht hingegen so weit, dass es durchaus Leserinnen und Leser unglücklich machen kann. Die Darstellung des Forschungsstandes beginnt etwa so:

„Es sind in den letzten Jahrzehnten zahlreiche Publikationen erschienen, in denen die SS oder das Ahnenerbe erwähnt werden. Daher werden hier nur jene Arbeiten vorgestellt, die entweder für dieses Gebiet der Zeitgeschichte oder aber herausragend relevant für die vorliegende Darstellung des Instituts für wehrwissenschaftliche Zweckforschung sind:“ (S. 17f.)

Kann nun jeder in eigenen Worten wiedergeben, welche Arbeiten Reitzenstein vorstellt? Nach der Vorstellung eines Sammelbandes in einem Absatz, wovon drei Zeilen auf die Nennung der Herausgeber, des Bandtitels und der Schriftenreihe (samt Nummer) entfallen [Hinweis für Studierende: Das gehört bestenfalls in die Anmerkung], kommt Reitzenstein zum nächsten Band, der nach obigen Kriterien vorzustellen ist – oder doch nicht?

„Die jüngste und fundierteste Himmler-Biographie von Peter Longerich von 200832 streift das Thema Ahnenerbe nur. Zwar wird im Kapitel ‚Himmler als Erzieher‘ dezidiert dargelegt, dass Himmler die Angehörigen der SS in nahezu allen Lebensbereichen zu erziehen trachtete, insbesondere, sie zu einer gesunden Lebensführung anzuhalten. Jedoch wird das Institut für wehrwissenschaftliche Zweckforschung im Werk gar nicht und das Ahnenerbe nur in Bezug auf die nichtmedizinischen Aufgaben vorgestellt. Wolfram Sievers wird nur zwei Mal erwähnt – im Zusammenhang mit seiner frühen Berufung zum Generalsekretär des ersten Ahnenerbes und im Zusammenhang mit paläontologischen Ausgrabungen. Die Beziehung zwischen Himmler und Sievers wird von Longerich nicht thematisiert.“ (S. 18)

Der letzte Satz klärt den unbedarften Leser sicherheitshalber darüber auf, dass Sievers bei paläontologischen Ausgrabungen nicht etwa seine Beziehung zu Himmler entdeckt hat. Aber solche Kleinigkeiten lenken ja nur von der Frage ab, ob Reitzenstein im Folgenden noch alle weiteren Bücher absatzweise vorstellt, „in denen die SS oder das Ahnenerbe [oder Wolfram Sievers] erwähnt werden“. Das nächste vorgestellte Werk lässt in dieser Hinsicht Schlimmes vermuten. Aber schon im darauf folgenden Abschnitt würdigt Reitzenstein das Standardwerk zum SS-Ahnenerbe von Michael H. Kater, unter anderem so:

„Der qualitative Unterschied der medizinischen Arbeiten im Gegensatz zu den anderen Arbeiten des Ahnenerbes unter den Notwendigkeiten eines Staates in einem Weltkrieg geht Kater nur am Rande ein.“ (S. 19)

Die zitierten Sätze sind hier nicht etwa falsch abgeschrieben, sie lauten wirklich so. Flachowsky hat derlei Formulierungsprobleme, die sich offenbar durch das Werk ziehen, freundlich übergangen. Wildt und Hohls hingegen haben weitere Abschnitte von den Seiten 61 und 223 zitiert,[5] bei denen klar wird, dass schlampiges Formulieren nicht nur zu grammatischen Schwächen, Verständnisschwierigkeiten oder Kommafehlern führt, sondern auch zu schweren inhaltlichen Ungereimtheiten und sogar Widersprüchen. Es stimmt zwar, was Wildt und Hohls meinen:

„Deshalb sowie wegen der ungewöhnlichen Kapiteleinteilung, der Redundanzen und Rechtschreibfehler wäre ein formales und inhaltliches Lektorat seitens des Verlages hilfreich gewesen.“[5]

Aber auch inhaltliche Lektoren wären wohl damit überfordert gewesen, Reitzenstein zu erklären, dass aus seinen einzelnen Quellenbefunden ganz andere Schlüsse zu ziehen wären als er meinte. Auch das führen Wildt und Hohls vor.

Ignorante Methode

Sehr bedauerlich ist, dass sowohl Flachowskys Rezension als auch Wildts und Hohls‘ „Stellungnahme“ Kritik an Reitzensteins Methoden vermissen lassen. Schon im Vorwort seines Buches kündigt sich eine wenig reflektierte Agenda an, wenn Reitzenstein seine Untersuchung „nach der ersten Ebene, der Beschreibung der Entwicklung des Instituts für wehrwissenschaftliche Zweckforschung und seiner Strukturen, auf der zweiten Ebene als Kompendium“ verstanden wissen will, „in welchem sämtliche verfügbaren Quellen Berücksichtigung fanden.“ (S. 9) Nähere Erläuterungen seines Vorgehens sind dann bezeichnenderweise unter der Überschrift „Editorische Bemerkungen“ (S. 22-24) zu finden. Ihr an erster Stelle genannter und damit offenbar wichtigster Grundsatz lautet, „die Sig-Runen der SS-Schreibmaschinen“ beim Zitieren von Quellen den „heutigen Schreibregeln“ anzupassen, da „technisch erforderlich“.

Weitere Methoden sind das Weglassen von Anführungszeichen, obwohl Begriffe „und andere Formulierungen der Diktatur – im Sinne von Klemperer – nicht Gedankengut des Autors sind“. Um „Interpretationsraum wie bezüglich der Rede des Bundestagspräsidenten Philipp Jenninger vom 10.11.1988 auszuschließen, sei an dieser Stelle einmalig und abschließend darauf hingewiesen.“ Dann erklärt Reitzenstein doch noch sein methodisches Credo:

„Neben den üblichen Standards der Geschichtswissenschaft wird ein weiterer methodischer Schwerpunkt auf die juristische Evidenz bestimmter Sachverhalte gelegt und daher in den hierbei notwendigen Abschnitten sprachlich angepasst vorgegangen. Wenngleich es sich oftmals angeboten hätte, aufgrund eines Gesamtzusammenhanges eine mit hoher Wahrscheinlichkeit unterlegte Tatsachenbehauptung aufzustellen, geschah diese stets nur dann, wenn Tatsachen evident waren.“ (S. 23)

Wohlgemerkt zusätzlich zu den „üblichen Standards der Geschichtswissenschaft“ (welchen?) achtet Reitzenstein darauf, Tatsachenbehauptungen nur aufzustellen, wenn er sie evident findet. Denn in der Geschichtswissenschaft ist es offenbar nach seiner Auffassung üblich, Spekulationen zu Tatsachen zu erklären. Reitzenstein will sich dagegen auf Tatsachen beschränken und überlässt es ansonsten dem Leser, die Schlüsse aus den ausgiebig zitierten Quellen zu ziehen:

„Es sei dem Leser anheimgestellt, sich eigene Gedanken zur Sprache von Sievers, Hirt, Rascher und der gemeinsam in der Geschichte des Instituts für wehrwissenschaftliche Zweckforschung verbundenen Menschen zu machen.“ (S. 24)

Auch über die Verbundenheit der Menschen macht sich Reitzenstein selbst offenbar wenig eigene Gedanken, wenn er sich etwa auf ihre späteren Zweckaussagen stützt. Und der Gedanke, dass es in der NS-Täter-Forschung ein fragwürdiger Grundsatz ist, sich auf ein juristisches Tatsachenverständnis zurückzuziehen, liegt ihm fern. In dubio pro reo? Wozu das bei Naziverbrechern führen kann, zeigt Reitzenstein doch: Dorthin, wo man anhand der Verteidigungsstrategie des Verurteilten und anhand seiner Selbstzeugnisse zu der Suggestion gelangt, dass das Nürnberger Urteil ungerecht gewesen wäre. Wildt und Hohls zitierten unter anderem folgende Behauptungen Reitzensteins:[5]

„Es wird gezeigt, dass Rascher von Beginn an letale Versuche anstrebte, Sievers jedoch nie von sich aus derartige Versuchsanordnungen forderte.“ (S. 61) – „Es gibt keinen Hinweis, dass Sievers Menschenversuche gefordert hätte, sofern es Alternativen gab. Dies belegt die These Ina Schmidts, dass Sievers aus religiösen Gründen die Menschenversuche ablehnte.“ (S. 223)

Es sei dem Leser anheimgestellt, sich eigene Gedanken zu solcher Argumentation zu machen.

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11 Antworten zu “Zur Causa Reitzenstein: Wert und Bewertung

  1. Pingback: Umleitung: @erbloggtes legt nach und nicht nur Reitzenstein kriegt sein Fett weg | zoom

  2. Ich hätte weitere erhebliche Methodenbedenken bezüglich der Überinterpretation seiner Quellen. Denn er behauptet nach meinem Eindruck tatsächlich „Tatsachen“, die einfach nur Vermutungen sind, gerade in Bezug auf Sievers‘ Ambitionen und dem Verhältnis zu Himmler.

  3. Könntest du deinen Eindruck auch an einem Beispiel erläutern? Ich bin ja geneigt, als Reitzensteins Methode eher ausgiebige Quellenwiedergaben anzunehmen. Die Vermutungen könnten dann Sievers Vermutungen sein.

  4. Ich meine es eher anders: R. stellt sehr viele Vermutungen über die Motivationen von Sievers an, die in den Quellen meiner Ansicht nach überhaupt nicht erkennbar sind. Beispiel S. 55: „Die Quellen legen bei genauerer Betrachtung die Vermutung nahe, dass zwei Elemente das Handeln von Wolfram Sievers erheblich beeinflussten: Sein Ehrgeiz und seine Karriereoptionen. Beides bezog er jedoch bis etwa 1943 einzig aus Himmlers Wohlwollen.“ Zunächst mal hatte Sievers da einfach ein formales Dienstverhältnis und Himmler war sein Vorgesetzter. R. interpretiert sehr viel in Richtung „Führer entgegenarbeiten“ – das braucht man an der Stelle gar nicht unbedingt. Aber aus der Ehrgeizvermutung leitet er dann seine ganze Charakterisierung und das Täterbild als Technokrat a la Eichmann ab. Das meine ich mit überinterpretiert.
    Noch etwas in Zusammenhang mit der Methode: An wirklich wichtigen Stellen gibt er gar keine Belege. Beispiel S. 34: „Des Weiteren gab es enge Kontakte zum SD-Amt innerhalb des Reichssicherheitshauptamtes.“ Die entsprechende Anmerkung erklärt dann nur, was das RSHA war.

  5. Danke, ich verstehe. Solche pauschalen Gesamtdeutungen „einer Persönlichkeit“ mögen sich ja zuweilen dem konkreten Belegen mit Quellen entziehen. Auch sagt Reitzenstein hier, dass es sich um eine Vermutung handelt. Und mit der „Führer-entgegenarbeiten“-Formel hat er ja auf S. 13f. angegeben, welcher theoretische Leitgedanke seine Deutung prägt. Insofern setzt er womöglich Ehrgeiz voraus, weil ohne Ehrgeiz das Erklärungsmodell eines Wettbewerbs unter Technokraten nicht funktionieren würde.
    Aber wenn enge Kontakte zum RSHA wirklich nicht belegt sind, ist das natürlich bitter für das groß angekündigte Projekt eines „Kompendium“, in dem „sämtliche verfügbaren Quellen Berücksichtigung fanden“ (S. 9).

  6. Ja, er setzt Prämissen, die vielleicht mehr über ihn als über die handelnden Personen in AE aussagen. Und in der Konsequenz bekommt er meines Erachtens dann einen schrägen Blick, wenn er beispielsweise bei Umstrukturierungen, die in der SS ja durchaus häufiger in allen Bereichen vorkamen, von der „Entmachtung“ Sievers‘ durch Himmler spricht. Ich finde also, die Gesamteinschätzung leidet da einfach.

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  8. In der „Welt“ (https://www.welt.de/print/die_welt/literatur/article163911984/Der-Betrieb.html) berichtet Marc Reichwein jetzt über einen offenbar sehr ähnlichen Fall: Dorit Messlin vom Max-Weber-Kolleg für kultur- und sozialwissenschaftliche Studien in Erfurt geht anwaltlich gegen eine kritische Rezension ihrer Doktorarbeit von Thomas Schirren vor, die 2014 in „arbitrium“ erschien. Messlin verlangt die Streichung bestimmter Passagen und erhebt finanzielle Forderungen.

    Die Doktorarbeit von Dorit Messlin zu Friedrich Schlegel ist 2011 veröffentlicht und 2014 mit dem Novalis-Preis ausgezeichnet worden. Dass Messlin jetzt, Jahre später, anwaltlich gegen eine Rezension von 2014 vorgeht, hängt wohl mit dem Abschluss ihrer Habilitation zur Diskursgeschichte des Hyperbolischen zusammen. Der wissenschaftliche Arbeitsmarkt ist hart umkämpft, und als „begabtes und hoffnungsvolles Nachwuchstalent“ (Anwaltsschreiben) muss man sich optimale Ausgangschancen sichern.

    Eine äußerst kritische Rezension der Doktorarbeit wurde 2016 auf IASL online publiziert. Ob die Rezensentin May Mergenthaler (Ohio State University) wohl auch Post vom Anwalt bekommen hat? Oder ob IASL online direkt angegangen wird? Archiviert ist diese Rezension jedenfalls hier: https://web.archive.org/save/http://www.iaslonline.de/index.php?vorgang_id=3684

  9. Wenn Mergenthalers Vorwürfe von Fehllektüren und flüchtiger Textanalyse und -interpretation Messlins stimmen, hat sie die schwer lesbare Rezension vielleicht nicht als äußerst kritisch verstanden. Ich konnte jedenfalls nicht immer erkennen, ob sich die Rezensentin durch das ausgedehnte Referieren von Geschwurbel über die Autorin lustig machen will.

  10. Die Fälle Messlin und Reitzenstein jetzt in der FAZ: http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/forschung-und-lehre/klage-wegen-wissenschaftlicher-rezension-14977118-p3.html?printPagedArticle=true#pageIndex_3

    Der Artikel bestätigt mit einem Zitat aus dem Anwaltsschreiben die Vermutung, dass sich Messlin in der Abschlussphase der Habilitation durch die Jahre alte Kritik an ihrer Doktorarbeit in ihrer Karriereplanung gestört fühlt.

    Solche Fälle werden noch öfters auftauchen. Frühzeitiger und heftiger Streisand-Effekt ist wohl das einzige wirksame Gegenmittel.

  11. Ich finde, dass es viele mögliche wirksame Gegenmittel gibt – aber Streisand ist dasjenige, was uns als kritischer wissenschaftlicher Öffentlichkeit zur Verfügung steht.
    Um dazu nochmal grundsätzlich zu werden: Dass finanzstarke Akteure sich des Rechtssystems bedienen können, um sich unfaire Vorteile zu verschaffen, ist ein Misstand, der in vielen Bereichen besteht und dessen Beseitigung man vom Staat in einer kapitalistischen Gesellschaft nicht erhoffen sollte.
    Ebensowenig ist aber zu erwarten, dass sich wissenschaftliche Institutionen dazu engagieren werden, die hier die wissenschaftliche Debatte beschädigenden juristischen Mittel zu entschärfen.
    Und unser Streisand? Vielleicht dient der eher unserer eigenen Psychohygiene. Die finanzstarken Akteure wird er wohl von ihrem Vorgehen nicht abbringen. Man kann das ja durchaus als erfolgreich bewerten, wenn man die Amazon-„Rezensionen“ zum Maßstab nimmt, die sich um Reitzenstein inzwischen versammelt haben:
    https://www.amazon.de/product-reviews/3506766570/
    (Die einzige Bewertung, die aufgrund des juristischen Vorgehens keine 5 Sterne vergab, wird mir standardmäßig gar nicht mehr angezeigt.)

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