Longreads: Phantasie und Plagiat

Erbaut es das zeitgenössische Publikum, ein „Longread“ zu lesen? Dieses neue Wort findet sich in keinem Wörterbuch, ist aber inzwischen in verschiedenen Varianten (groß, klein, getrennt, zusammen, Singular, Plural, mit Hashtag oder ohne) im englischen wie im deutschen Journalistensprech gebräuchlich. Bezeichnenderweise ist sein bislang einziges Vorkommen im Digitalen Wörterbuch der deutschen Sprache die folgende kulturpessimistische Tirade aus Die Zeit:

„Das Kulturgut Buch ist von höchster Internetstelle geadelt und im Fortschritt reintegriert. Und vielleicht hören endlich die sozialmedialen Nutztiere auf, ihren Freunden und Followern Texte mit dem Warnhinweis #longread zu empfehlen, als seien vier oder mehr Absätze etwas Exotisches.“[1]

Aber angesichts des dräuenden Untergangs des Journalismus nutzt alles Lamentieren nichts. Keinen Monat später war der Einstieg der Süddeutschen Zeitung in eine Longread-Recycling-Einrichtung namens „Langstrecke“ verkündet.[2] Denn merke: Anders als Die Zeit meint, handelt es sich bei Longreads eigentlich nicht um Bücher, schon gar nicht Belletristik, sondern um nicht-fiktionale Texte wie „In-depth reporting, essays and profiles“ (The Guardian), „Interviews, Reportagen und Essays“ (Meedia), also „longform journalism“ (The Daily Beast).

Die Idee, Longreads einfach in Büchern nachzudrucken, zeigt ungefähr das Innovationspotential der Süddeutschen an. Aber ein Aspekt daran ist bemerkenswert: Longreads sollen nicht so rasch veralten wie Nachrichtenmeldungen. In diesem Sinne, genug der Longread-Theorie, kurz und knapp: Hier sind einige Longreads zum Thema Plagiate, die 2015 entstanden sind, aber 2016 gewiss noch lesenswert bleiben – wenn man sich Die Zeit nehmen kann, stattdessen aber lieber zu etwas Lesenswertem greift.

Mysteriöse Schavan-Festschrift

Von einer einschlägig interessierten Öffentlichkeit bislang unbemerkt, hat sich die CDU-nahe Konrad-Adenauer-Stiftung schon Mitte 2014 eine ganz besondere Ehrung für Annette Schavan einfallen lassen. Auf Causa Schavan beschreibt Simone G. „die merkwürdige Erscheinung einer Festschrift, die vortäuscht, keine Festschrift zu sein“:

„Auf dem Titelblatt findet sich ebensowenig ein Hinweis auf die Geehrte wie im Rückentext des Bändchens. Weder das Geleitwort von Angela Merkel noch das Vorwort der Herausgeber bekennt sich offen zu der speziellen Aufgabe und dem unmittelbaren Verwendungszweck dieser Schrift: Eine Ehrengabe für Annette Schavan zu sein. Dennoch wird rasch deutlich, wohin der Hase läuft.“

Mit der Skizze von Simone G. sind die Longread-Fans wohl schon hinreichend ins Bild gesetzt. Für hartgesottene Long-Longread-Fans gibt’s das Ganze hier aber auch in der Volltext-Version:

  • Erich Thies, Nicola Leibinger-Kammüller (Hrsg.): Politik für Wissenschaft und Forschung in Deutschland. Droste-Verlag, Düsseldorf [2014] (PDF).

Wunderbar, dass für solche Werke heute nicht mehr unbedingt Bäume sterben müssen. Einen lichten Moment offenbart allerdings die letzte Seite des Heftchens, S. 122: Die Seite zeigt ein Handy-Foto von Statuen vermummter Mönche mit Beutelbüchern, beschriftet als:

„Annette Schavan, Zwei Pleurants Juan de la Huertas vom Grabmal des Herzogs Jean sans Peur in Dijon, ca. 1450, Fotografie, März 2013“

Darüber stehen die letzten Worte der Schavan-Eloge von Horst Bredekamp:

„In einem bestimmten Moment unserer Besichtigung hat Annette Schavan ihr Smartphone genutzt, um Aufnahmen von jeder einzelnen Figur zu machen. Eine dieser Fotografien zeigt die Trauer zwei dieser Pleurants in der Aufgewühltheit ihrer die Gesichter verbergenden Draperien (Abb.) [WTF?]. Auf meine etwas banale Frage, wofür sie diese gemacht habe, kam die Antwort: Für die dunklen Stunden. Es war ein lichter Moment.“

Kunsthistoriker Bredekamp nennt seine Frage banal, um den Rest der Szenerie im Kontrast tiefsinnig erscheinen zu lassen. Nach wiedergewonnener Fassung bleibt jedoch ein Eindruck irgendwo zwischen Trüb- und Stumpfsinnigkeit zurück.

Akademische Apologie

Sammelbände herauszubringen, dabei aber zu verschleiern, worum es sich dabei eigentlich handelt, das scheint sich zu einem Trend zu entwickeln in gewissen Kreisen. Die Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften (BBAW) hat die Ergebnisse ihrer schavanistischen Interdisziplinären Arbeitsgruppe (IAG) „Zitat und Paraphrase“ neulich veröffentlicht als:

  • Christiane Lahusen, Christoph Markschies (Hrsg.): Zitat, Paraphrase, Plagiat. Wissenschaft zwischen guter Praxis und Fehlverhalten. Campus, Frankfurt am Main 2015.

Den Band hat ebenfalls Simone G. aufopferungsvoll durchgearbeitet und gelangt zu dem Fazit:

„‚Zitat, Paraphrase, Plagiat. Wissenschaft zwischen guter Praxis und Fehlverhalten‘ dokumentiert auf denkwürdige Weise die Geschichte einer Forschergruppe an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, deren vordringliche Zweckbestimmung sich auf halbem Weg erledigt hatte: Als Zentrallabor der Plagiatsforschung für möglichst viel Qualm und Rauch und eine insgesamt günstige Lage für Annette Schavan zu sorgen, die um die Rückgewinnung ihres Doktorgrades kämpfte. Doch es musste weitergehen und ein vorzeigbares Ende finden. Und so betrieb man weiter Wissenschaft, zwischen guter Praxis und Fehlverhalten. Dazwischen, irgendwo.“[3]

Das Longread ist zweiteilig:

Mörderischer Examensbetrug

Nach solchen wenig erquicklichen Berichten über den Zustand des wissenschaftlich-politischen Komplexes in Deutschland fühlt es sich wie Urlaub an, den Komplex von Bildungstiteln, Ämtern, Betrug und Profit aus der Ferne und mit ethnographischem V-Effekt zu betrachten:

Die Reportage über organisierten Prüfungsbetrug, unaufgeklärte Serienmorde, korrupte Verwaltung und Regierung sowie großangelegte Vertuschungsbemühungen im indischen Bundesstaat Madhya Pradesh ist ein Krimi, der für mitteleuropäische Leserinnen und Leser in einer Art Fantasy-Welt spielt. Fantasy-Geschichten haben es aber nun einmal so an sich, dass sie dem Publikum Aspekte der eigenen Lebenswelt in neuer Gestalt vorführen und Ansätze zu neuem Nachdenken bieten. So auch hier.

Madhya Pradesh hat unwesentlich weniger Einwohner als Deutschland, der Vyapam-Betrug betraf ganze Jahrgänge der zentralisierten Zulassungstests zu staatlichen Berufen und Studiengängen. Betrogen haben oder wurden mindestens 3,2 Millionen Prüflinge. Dutzende Beteiligte sind inzwischen unter teilweise ungeklärten oder fragwürdigen Umständen zu Tode gekommen. Es gab über 2000 Verhaftungen, darunter der ehemalige Bildungsminister Laxmikant Sharma und mehr als einhundert weitere Politiker.[4]

Diese erstaunlichen Exzesse werfen Fragen auf wie die folgenden: Warum gibt es das hier nicht? Oder gibt es das doch, nur in verwandelter Form? Die Rohheit von standardisierten Tests, einer dreisten Betrügerindustrie, halboffizieller Korruption mit Quittung, Gewalt bis hin zu Mord, Massenverhaftungen und großangelegten Säuberungsaktionen der politischen Ämter und Parteien – wenn das die Folgen der spezifischen indisch-postkolonialen Bedingungen sind, welche verschleierte oder verfeinerte Form nehmen solche Phänomene dann unter den spezifischen deutsch-postmodernen Bedingungen an?

Inwiefern floriert an deutschen Hochschulen eine Art bargeldlose Korruption? Oder wie werden indirekte Kapitalströme verschleiert? Sind etwa die parteinahen Stiftungen mit ihren rasch wachsenden Budgets (2011 zusammen 423,2 Millionen Euro aus dem Bundeshaushalt[5]) Institutionen, die Zugänge zu Bildungswegen und staatlichen Posten ermöglichen, für die man in Indien bar zahlen müsste? Und wenn Parteistiftungen solche Karrieregrundlagen für ihre Klientel bereitstellen, inwiefern ist das besser als Eltern, die einen Ersatzmann für den Zulassungstest ihres Kindes bezahlen?

Der offensichtliche Unterschied ist der Geldfluss, das monetäre Interesse der Beteiligten. Aber wenn die Berührung mit Geld alles Gute in Böses verwandelt, warum ist Kapitalismus dann so beliebt?

Plagiarismus als Ego-Shooter

Dieses letzte hier zu empfehlende Longread lenkt den Blick auf ein anderes fernes Fantasy-Land, Hollywood, und auf die Innenansichten des TV-Serien-Autors und -Produzenten Javier Grillo-Marxuach, der an Produktionen wie Lost, Charmed und Law & Order beteiligt war.

Es erfordert einige Perspektivwechsel, aber dann sind die Selbstzweifel, Selbstbezichtigungen, Erinnerungen und Reflexionen eines Kreativarbeiters über Originalität und Inspiration durchaus unterhaltsam zu lesen. Die Masse eingestreuter Zitate von Künstlern, die das klassische Originalitätskonzept einer eigenständigen geistigen Leistung leugnen, verdeutlicht, dass Grillo-Marxuach mit seiner Angst, ein „Fucking Plagiarist“ zu sein, nicht allein ist, sondern ein ganz und gar normaler Künstler. Es ist keine Verkündung einer umstürzenden Wahrheit, wenn sogar Pete Seeger („Where Have All the Flowers Gone“) laut Grillo-Marxuach sagte:

„Plagiarism is basic to all culture.“

Es gibt einfach niemanden Ernstzunehmenden mehr, der solche Sätze in einer angemessenen Interpretation bestreiten würde. Leider übertreibt es Grillo-Marxuach in seiner Angst und seinem Wahn, und verwischt die Grenze zwischen Inspiration, Hommage und Plagiat. Und natürlich, die Felder der Kunst und der Wissenschaft, die darf man unter diesem Aspekt nicht verwechseln. So ist aber auch das Zitat, das Grillo-Marxuach dem Dramatiker Wilson Mizner zuschreibt, nicht zu deuten:

„If you steal from one author, it’s plagiarism; if you steal from many, it’s research.“

Zwar lassen sich für den Spruch Quellenangaben finden (etwa hier, Nr. 6), aber letztlich ist sein Kursieren durch die Jahrhunderte (hier nachgezeichnet) als Akt der Performancekunst zu interpretieren, mit dem der Philologe auf die Unerlässlichkeit genauer Quellenangaben und ihrer Überprüfung aufmerksam gemacht werden soll. Denn eigentlich müsste es heißen, und das lässt sich dann als Erbloggtes-Aphorismus zitieren:

Wer von einem Autor stiehlt, ist ein Plagiator.
Wer von mehreren Autoren stiehlt, ist ein Plagiator.
Wer von vielen Autoren nimmt,
dies aber alles genau angibt,
ist ein Forscher.
— Erbloggtes, 2016

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Eine Antwort zu “Longreads: Phantasie und Plagiat

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