Otto Dickel, NSDAP-Agitator und Zankapfel

Erscheint es zwar schwierig, einen Text der Süddeutschen Zeitung über die Würdigung eines radikalen Antisemiten zu beurteilen, ohne den Text selbst zu kennen, so verwirrt doch die Frage, ob ein bayerischer Kreistag sich keine fundierte Meinung zum betreffenden Artikel bilden könne.

Mayr schreibt: „Empört kämpfen die Grünen gegen das Erscheinen dieses Artikels“, in dem der besagte Antisemit Otto Dickel als Kämpfer für „soziale Gerechtigkeit, europäische Zusammenarbeit und wahre Humanität“ geehrt werde. Mayr kämpft gleich mit und zitiert zahlreiche Sätze, mit denen Dickel in seiner 1921 erschienenen Schrift „Die Auferstehung des Abendlandes“ seine antisemitische Gesinnung zum Ausdruck brachte. Der betreffende Aufsatz verharmlose dies mit Sätzen wie „Seine Schrift erreichte allgemeines Interesse und Anerkennung“. Doch welches der betreffende Aufsatz ist, das verrät Mayr nicht; auch in anderen Berichten über den Aichacher Dickel-Streit taucht der Titel nicht auf. Es handelt sich um:

  • Leonhard Knauer: Dickelsmoor bei Derching. Eine ungewöhnliche Entstehungsgeschichte. In: Altbayern in Schwaben. Jahrbuch für Geschichte und Kultur, 2011, S. 137-158.

Am meisten zu erfahren darüber ist in einem Artikel, der anlässlich der Vorstellung des Jahrbuchs dessen Inhalte referiert:

„Leonhard Knauer hat zum Jahrbuch einen Artikel über die Entstehung von Dickelsmoor bei Derching beigesteuert. Das Dorf wurde 1926 von der ‚Deutschen Werkgemeinschaft‘ unter Federführung von Dr. Otto Dickel gegründet. In der Sozialsiedlung sollten Menschen eine ‚unverschuldbare Heimstätte‘ finden, um sich zu einem Geschlecht zu entwickeln, das ‚gesund und lebensstark‘ ist und auf ‚germanischer Wesensart‘ gründet, erklärt Knauer. Darin wird auch das Leben Dickels aufgearbeitet, der Gründungsmitglied der NSDAP war, von Hitler später ausgeschlossen wurde. Dabei vergisst der Autor nicht, dass Dickel in seinen Büchern ‚leider auch antisemitische Äußerungen‘ aufschrieb.“

Dickel scheint demnach seinem „Biographen“ Leonhard Knauer als der Held von Dickelsmoor zu gelten, der nur Gutes im Sinn hatte, als er mit dem Teufel speiste, aber bedauerlicherweise auch ein klein wenig der zeitgenössischen Folklore in Form von Judenhass anhing. Natürlich ist es verfehlt, ein Heldenlied auf Dickel zu dichten. Aber woher sollen das „Hobby-Historiker“[1] Leonhard Knauer (1972-91 Kreisvorsitzender der Bayerischen Kameraden- und Soldatenvereinigung)[2], Landrat Christian Knauer (CSU, Landesvorsitzender des BdV) oder der Kreistag von Aichach-Friedberg wissen? Die Grünen meinten, man müsse das Institut für Zeitgeschichte (IfZ) in München befragen, damit es seinen Weisspruch nach Aichach-Friedberg hinter die sieben Berge schicke. So berichtete die Aichacher Zeitung:

Die Grünen sollen deswegen sogar die Weihnachtsfeier des Kreistags boykottiert haben. Da muss man sich doch fragen, was dran ist an diesem Otto Dickel und seiner ominösen Germanen-Siedlung Dickelsmoor. Dazu ein Überblick über den vom IfZ geprägten Forschungsstand vor Leonhard Knauers Aufsatz:

  • Hellmuth Auerbach: Regionale Wurzeln und Differenzen der NSDAP 1919-1923. In: Horst Möller (Hrsg.): Nationalsozialismus in der Region. Beiträge zur regionalen und lokalen Forschung und zum internationalen Vergleich. München 1996, S. 65–86.

Im Kapitel „Otto Dickel in Augsburg“ charakterisiert Auerbach auf S. 79f. Dickel und sein Umfeld:

„Dickels Antisemitismus war sehr viel gemäßigter als der Hitlers und Streichers. […] Dickel und seine Werkgemeinschaft hatten auch gute Beziehungen zu gewissen Gewerkschaftskreisen in Augsburg, die der USPD nahestanden und eher nationalbolschewistische Ziele vertraten. […] Erster Vorsitzender der Augsburger Werkgemeinschaft war nicht Dickel selbst, sondern ein Carl Böhrer, von Beruf Eisendreher und in der Räterepublik 1919 Volkskommissar für das Wohnungswesen. […] Dickel war Hitler geistig weit überlegen; er war auch ein guter Redner und konnte seine Überzeugungen vehement vortragen, zudem hatte er ebenfalls ein starkes Sendungsbewußtsein. Hitler spürte in ihm einen ernsthaften Rivalen.“

Die Rivalität zu Hitler in den Anfangstagen der NSDAP korrespondierte mit Richtungsstreit um Programmatik und Taktik der Partei, wie Auerbach im Kapitel „Hitler wird Parteiführer“ auf S. 80f. ausführt:

„Am 24. Juni [1921] sprach Dickel im Hofbräuhaus-Festsaal ‚mit größtem Erfolg‘. Man dachte [bei der NSDAP], in ihm einen zweiten zugkräftigen Redner neben Hitler gefunden zu haben.“

Dickel strebte eine Vereinigung der NSDAP mit der Deutschsozialistischen Partei (DSP) an, sowie eine Reform des von Hitler mitverantworteten NSDAP-Programms (25-Punkte-Programm), die bei den Parteioberen zunächst Zustimmung fand. Hitler trat aus der Partei aus und stellte ultimativ die Forderung „diktatorischer Machtbefugnisse“ als erster Vorsitzender der Partei, sowie deren „rücksichtslose[r] Reinigung“ von „fremden Elementen“. Am 29. Juli 1921 ordnete sich die NSDAP in einer Mitgliederversammlung ihrem Spitzen-Agitator Hitler unter und verabschiedete eine Satzung gemäß diktatorischem Prinzip. Am 10. September 1921 schloss Hitlers Parteileitung Otto Dickel aus der NSDAP aus. Ergänzend berichtet Gerhard Hetzer, ebenfalls für das IfZ, dass Dickel nach seinem NSDAP-Ausschluss in Augsburg „den größten Teil der Ortsgruppe auf seine Seite […] ziehen und bis 1923 die Hauptenergien der völkischen Kräfte in Augsburg“ auf seine „Deutsche Werkgemeinschaft“ vereinigen konnte.

„Ein mit antisemitischer Hetze dargebotenes, die ‚Schaffung deutschen, auf germanische Wesensart und Weltanschauung begründeten Rechtes‘ […] forderndes Programm sprach Personen ‚aus allen Ständen‘ an […]. In einer Laubenkolonie nordöstlich von Augsburg – ‚Dickelsmoor‘ – sollte ein Modell seines Siedlungsprogramms entstehen. Von hier aus ergaben sich Verbindungslinien zu linken Gruppen, in denen nationalrevolutionäre Tendenzen virulent waren.“

Im Zuge des raschen Wachstums der am 27. Oktober 1922 neu gegründete Augsburger NSDAP-Ortsgruppe verkümmerte Dickels Werkgemeinschaft jedoch „zur Sekte“.

  • Gerhard Hetzer: Die Industriestadt Augsburg. Eine Sozialgeschichte der Arbeiteropposition. In: Martin Broszat, Hartmut Mehringer (Hrsg.): Bayern in der NS-Zeit. München 1977, S. 1–234, hier S. 51f.

Die Folgen schildert wiederum Auerbach auf S. 81, Fußnote 61:

„Dickel hat sich nach seinem Ausschluß aus der NSDAP immer weiter von Hitler entfernt. Wegen seiner negativen Einstellung zum Nationalsozialismus wurde er im Oktober 1934 für zehn Monate inhaftiert und mußte aus dem Schuldienst ausscheiden. […] Dickel hatte in den Kriegsjahren Kontakte zu Oppositionskreisen. Nachdem er sich im Frühjahr 1944 mit Gesinnungsgenossen in Karlsruhe getroffen hatte, wurde er bald darauf an seinem damaligen Wohnort im Kreis Reutlingen von der Gestapo aufgesucht. Kurz vor seiner Verhaftung gelang es ihm, sich auf einer Toilette mit einer Pistole das Leben zu nehmen.“

Wie kommt es, dass in Bayern, mitten auf dem Lande, antisemitisch hetzende Ex-Nazis mit wirren Ideen von Germanen-Bauerntum zu Heroen der Vergangenheit stilisiert werden können? Liegt es an der bayerischen Heimatliebe und einem dadurch beeinträchtigten Urteilsvermögen über die Geschichte? Oder krankt das bayerische Geschichtsbewusstsein an der Gegenwart, an der links-rechts-Schwäche der CSU, die gern Querfront-Spielchen treibt und damit in die Fußstapfen von Leuten wie Dickel tritt?

Die Kontroverse um die historische Beurteilung Dickels wird in Aichach offenbar nach Parteibuch geführt. Und während anderswo in der Republik eine Partei, die keine Bedenken mit der Ehrung völkisch-nationalistischer Antisemiten hat, jedenfalls ein „deutsch“ oder „national“ im Namen trüge, schiebt man in Bayern vor, man wolle keine „Zensur“ betreiben, um die ehrenamtlichen Autoren des Jahrbuchs nicht zu verschrecken.[3] Das scheint dort so überzeugend zu sein, dass sich nicht nur die CSU die Freiheit des Jahrbuch-Autors auf die Fahne schreibt, sondern bei nur 29 CSU-Sitzen im Kreistag die Abstimmung über die Einholung eines IfZ-Gutachtens (das sicher ausfiele wie oben skizziert) mit einer 49:7-Stimmenmehrheit gegen den Grünen-Antrag endet.[3]

Der Autor der Dickel/Dickelsmoor-Eloge kommentierte die ganze Debatte mit Unverständnis. „Wir wollten nichts beschönigen“. Der Vorsitzende des Heimatkundevereins Derching will die Vergangenheit für die Zukunft bewahren und meint: „Otto Dickel hat die Siedlung nun mal gegründet, das kann ich auch nicht ändern.“[4] Dickel hat nun mal üble antisemitische Hetze betrieben. Auch das kann der Autor nicht ändern. Aber dazu Stellung nehmen hätte er schon können.

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Eine Antwort zu “Otto Dickel, NSDAP-Agitator und Zankapfel

  1. Es gibt gar keinen Grund einen Hasser zu verniedlichen oder ihn heute noch zu ehren.

    Warum tut man sich auch nach so vielen Jahren so schwer damit, sich klar von solchem Zeug zu trennen? Wozu verteidigen, was keinen Pfifferling wert, weil längst als Mist entlarvt?

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