Der große Graben zwischen Urheberrecht und Rechtsempfinden

Er schätzt es als Zeichen für das Versagen des Gesetzgebers ein, wenn das Rechtsempfinden nachhaltig und tiefgreifend gestört ist. Das ist im Urheberrecht der Fall. Anhand einiger sehr unterschiedlicher Fälle wird deutlich, dass es nicht bloß jugendliche Tauschbörsenteilnehmer sind und auch nicht dubiose Downloadportalbetreiber, denen es an Unrechtsbewusstsein mangelt, und die daher das geltende Urheberrecht missachten.

Es ist die Contentindustrie selbst, deren Rechtsempfinden massiv gestört ist. Zeitungen drucken ungefragt Blogartikel ab und finden das korrekt. Bands betrachten sich als berechtigt, die Arbeit von Pressefotografen ohne Zustimmung zu gebrauchen (oder deren Zustimmung ohne Gegenleistung zu verlangen). Und Künstler aller Art benutzen seit langer Zeit widerrechtlich Rezensionen über ihre Werke für ihre Selbstdarstellung – Verlage wollen das jetzt unterbinden.

In jedem Fall ist die Urheberrechtslage juristisch klar: Wer fremde Werke ohne Zustimmung benutzt, ist ein „Raubkopierer“. Fatal ist in den genannten Fällen, dass die „Raubkopierer“ keinerlei Unrechtsbewusstsein an den Tag legen und in den drei verlinkten Texten rechtlich hanebüchene Gründe vortragen, warum sie sich als berechtigt zur Nutzung der fremden Werke empfinden.

Von der Rechtslage abgesehen sind diese Gründe keineswegs hanebüchen, sondern sehr verständlich und sinnvoll: Sie argumentieren mit dem Zweck der Werke, der durch die zusätzliche Verbreitung besser erfüllt werde, sowie mit ihrer Entstehung, an denen die „Raubkopierer“ maßgeblich beteiligt waren. Schließlich ziehen sie auch ein wechselseitiges Nutzenverhältnis der Beteiligten heran, um zu begründen, warum sie sich im Recht sehen.

Das ist gut nachvollziehbar und nicht von der Hand zu weisen. Dennoch ist es empörend, wenn professionelle Contentanbieter rechtliche Ansprüche von Urhebern derart mit Füßen treten. Denn auf der anderen Seite sind sie die ersten, die schamlos die Rechtslage ausnutzen, um ihre Geschäftsmodelle durch Abmahnungen zu optimieren. Da heißt es dann:

„Die durchschnittliche Facebook-Pinnwand eines 16-Jährigen ist 10.000 Euro Abmahnkosten wert, wenn denn jede Urheberrechtsverletzung abgemahnt werden würde.“[1]

Wie kommt es zu dem breiten Graben zwischen Rechtslage und Rechtsempfinden? Eine naheliegende Erklärung lautet, dass die Rechtslage nicht aus dem Rechtsempfinden der Menschen entstanden ist, sondern aus den Wünschen der Contentindustrie. Wenn Lobbyisten Gesetze formulieren, kommt dabei sicher etwas heraus, was sich profitabel durchsetzen lässt und althergebrachte Besitzstände wahrt – schließlich ist die Contentindustrie mächtig und schwerfällig. Das tatsächliche Leben wird dabei aber ebensowenig Berücksichtigung finden wie das Rechtsempfinden oder die Interessen der Bürger.

SOPA, PIPA und ACTA sind auch nur weitere Beispiele für rechtliche Regelungen im Interesse von ungerechtfertigt einflussreichen Interessengruppen. Sie sind nicht das Problem. Sie sind nur Teil der Symptomatik. Das Problem ist die Art, wie heute Politik gemacht wird. Von der Theorie der Demokratie ist das weit entfernt.

Die letzten, die versuchen, ihr Rechtsempfinden mit der Rechtslage in Einklang zu bringen, sind heute Richter. In Deutschland muss meist das Bundesverfassungsgericht herhalten, im case law tut es jeder Präzedenzfall.[2] Öffentliche Debatten über die Rechtslage sind sicher informativ,[3] haben aber kaum Einfluss auf die Rechtsentwicklung durch Regierung und Parlament. Das liegt nicht zuletzt daran, wie eng Politiker mit Contentverwertern verbandelt sind, jüngstes Beispiel: Wulff.[4][5] Die CDU weigert sich seit Jahren, mit einem Anti-Korruptionsgesetz die vielfältigen Vorteile zu unterbinden, die Politiker aus solchen Verbindungen erhalten.[6][7][8]

Jede Hoffnung auf eine sinnvolle, faire und praktikable Reform des Urheberrechts wird daher wohl vergebens bleiben.

via [9][10]

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7 Antworten zu “Der große Graben zwischen Urheberrecht und Rechtsempfinden

  1. Vielen Dank für diesen Beitrag. Unser Blog heisst übrigens batz.ch und nicht batz.de. Aber wer weiss, vielleicht expandieren wir ja einmal nach Deutschland!

  2. Sorry. Bis dahin habe ich es korrigiert.

  3. Der Fall Braunshausen scheint mir nicht wirklich mit den anderen beiden vergleichbar. Denn bei ihm waren es ja nicht die Urheber der Texte, nämlich die Journalisten, die ihn zur Kasse baten sondern die Verlage, in denen ihre Rezensionen erschienen.

    Journalisten sind meist gezwungen, ihr Nutzungsrecht an die Verlage anzugeben, oftmals ohne dass sie zusätzlich entschädigt werden, wenn die Verlage die Texte mehrfach verwenden oder weiterverkaufen.

    Da wirkt es schon etwas befremdlich, wenn die Verlage auch dann klagen, wenn – wie im Fall Braunshausen – die eigentlichen Urheber mit der Weiterverwendung ihrer Texte einverstanden sind.

  4. Identisch sind die Fälle nicht, vergleichbar schon. Ihre zentrale Gemeinsamkeit (die sie von den eingangs erwähnten jugendlichen Tauschbörsenteilnehmern und dubiosen Downloadportalbetreibern unterscheidet) ist, dass die Urheberrechtsverletzer selbst professionelle Contentlieferanten sind. Zumal es Leute sind, die sich selbst für (ihr eigenes) geistiges Eigentum engagieren, zeigt das die grundsätzliche Fehlkonstruktion des derzeitigen Urheberrechts.

  5. Den Fall Bütler greift Ethikpopethik. In: arschhaarzopf.wordpress.com, 9. Februar 2012, auf, zusammen mit dem offenbar zuletzt häufiger anzutreffenden Schöpfungshöhe-Grenzfall des Tweetklaus durch Zeitungen. Sein Vorschlag: 62,50 Euro Honorar für einen Tweet.

  6. Es sind auch nicht die Käseblätter, die das Urheberrecht verletzen, und es ist nicht das deutsche Urheberrecht, das die Probleme macht:
    Die New York Times hat freundlicherweise einen Scan eines wichtigen Artikels von 1976 als PDF zum Download angeboten. Nur war es nicht ihr eigener Artikel (aber auch den hätte sie nicht einfach republizieren dürfen, sagt der Supreme Court). Das beschreibt ausführlich: Carly Carioli: Hi Bill Keller. The New York Times just stole our column. Should we sue? In: blog.thephoenix.com, 8. Februar 2012. Das ist kein Einzelfall, und auch nicht dem großen Zeitabstand zu 1976 geschuldet. Carly Carioli: Bill Keller? Me again. Here’s another article the New York Times pirated. In: blog.thephoenix.com, 9. Februar 2012.

    Carioli gelangt zu dem Ergebnis: „the problem is a copyright law written so stringently that not even a newspaper with the resources of the New York Times can comply with it“.

    Ja, da könnte etwas dran sein.

  7. Pingback: Das Leistungsschutzrecht, die Hegemonie und die Revolution | Erbloggtes

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