Philosophie in Ungarn

Erreichte schon am Donnerstag ein „An alle Kolleginnen und Kollegen in Deutschland“ gerichteter Offener Brief des ungarischen Philosophen László Tengelyi (Download hier) zahlreiche Philosophen in Deutschland per E-Mail, ist die Lage der Philosophie in Ungarn in der deutschen Öffentlichkeit noch weit unbekannter als die allgemeine Menschenrechtslage dort.

Hetzkampagne gegen Philosophen

Tengelyi, seit zehn Jahren Professor für Phänomenologie und theoretische Philosophie an der Bergischen Universität Wuppertal,[1] beklagt in seinem Brief eine „Hetzjagd“ auf bekannte ungarische Philosophen, allen voran Ágnes Heller, die Meisterschülerin des bekanntesten ungarischen Philosophen überhaupt, Georg Lukács. Die der Fidesz-Partei nahestehende Zeitung Magyar Nemzet (gibt es ohne Pressefreiheit überhaupt noch Zeitungen, die nicht der Regierungspartei nahe stehen?) habe am 8. Januar 2011 „einen ‚liberalen Kreis‘ von Philosophen“ beschuldigt, sie hätten „Forschungsanträge bewilligt erhalten […], ohne dass ihre Anträge dem Ausschreibungstext der Bewerbung entsprochen hätten.“

Über die sechs betroffenen Forschungsprojekte veröffentlichte die Zeitung seither zahlreiche weitere Berichte, die auf das Zusammenwirken von Regierung, Justizsystem und rechten Medien hindeuten: Zunächst sollte ein Regierungsbevollmächtigter die (seit längerem abgeschlossenen) Projekte überprüfen; dann hieß es, die Polizei ermittle in einem Fall. Am 18. Januar kündigte Magyar Nemzet polizeiliche Ermittlungen zu weiteren Projekten an.

Abrechnung mit regierungskritischen Intellektuellen

Tengelyi, der die Fälle nur von außen kennt, führt zahlreiche Gründe dafür an, die ihn „an der Glaubwürdigkeit der Beschuldigungen zweifeln lassen“ und dazu beitragen, dass für ihn „die ganze Angelegenheit erkennbar den Charakter einer Abrechnung mit politisch Andersdenkenden hat“. (Die Philosophen hatten sich am Protest gegen das neue Mediengesetz beteiligt.) Nur einer dieser Gründe ist der Vergleich des Ausschreibungstextes mit den Forschungsprojekten:

„‚Der im Zeichen der europäischen Integration eingereichte Bewerbungsantrag soll einerseits die den Rahmen europäischer Wissenschaftlichkeit bis heute maßgeblich bestimmenden Themen, andererseits die Integration grundlegender humanwissenschaftlicher Fragen der Gegenwartszeit darlegen.‘ Die sechs inkriminierten Bewerbungsprojekte, die sich mit klassischen Themen der Philosophie befassen, entsprechen dieser Beschreibung im vollen Maße.“

Deutlicher als Tengelyi, der mit philosophischer Vorsicht formuliert und argumentiert, ist der Bericht der französischen Tageszeitung Libération:

Antiintellektualismus und Antisemitismus

Demnach hält Magyar Nemzet weiter am Habitus der Korruptionsbekämpfung fest, der 2010 zum Wahlsieg des Fidesz-Vorsitzenden Viktor Orbán geführt hat: Nun inszeniere die Zeitung eine Hexenjagd (chasse aux sorcières) gegen fünf Philosophen. Magyar Nemzet wirft ihnen vor, durch ihre Kritik an der neuen Mediengesetzgebung das Ansehen Ungarns im Ausland beschmutzt zu haben. Die Libération zitiert Magyar Nemzet, die „Bande um Heller“ habe „eine halbe Milliarde [Forint] verschleudert, um Bücher aus dem Ungarischen ins Ungarische zu übersetzen“. Tatsächlich, so Tengelyi, wurden mit den Forschungsgeldern unter anderem die „neu herausgegebenen Platon-, Nietzsche- und Heidegger-Übersetzungen“ finanziert, eben genau jene oben genannten „klassischen Themen der Philosophie“.

Libération zitiert zu den Vorwürfen ausführlich Ágnes Heller, die sich an eine ähnliche Kampagne gegen sie aus dem Jahr 1973 erinnert fühlt. Damals habe man sie des Devisenschmuggels beschuldigt und eingesperrt. Heute werfe man ihr erneut grundlos wirtschaftliche Verbrechen vor:

„Ihr ‚Inquisitor‘ kann suchen, aber finden wird er keinerlei Finanzmissbrauch. Alles, was er finden wird, ist häretisches Denken.“ (Zitat aus Libération, deutsche Übersetzung Erbloggtes)

Die Rhetorik der Kampagne ist nicht nur umfassend antiintellektuell. Tengelyi fürchtet, „dass bei konsequenter Durchführung dieser Aktion in etwa das ganze Fach Philosophie in Ungarn ausgerottet würde.“ Sie ist auch antisemitisch – wie allzuviel in Ungarn heute.[2][3] Das geht so weit, dass inzwischen selbst bekannte Fidesz-Anhänger protestieren: Der konservative Philosoph Gabor Gulyás verbreitete auf Facebook einen Leserbrief, den Magyar Nemzet nicht hatte drucken wollen. Darin warf er der Zeitung vor:

„Sie sind viel mehr an parteipolitischen Kämpfen interessiert, an dieser Art von Krieg, als an Kultur und Wissenschaft. Ich weigere mich, an diesem Krieg teilzunehmen.“ (Zitat aus Libération, deutsche Übersetzung Erbloggtes)

Was tun?

Die gegenwärtige Hass- und Hetzkampagne gegen ungarische Philosophen versuche, die Werte der Aufklärung in den Augen der Öffentlichkeit zu desavouieren. Davon geht eine Online-Petition aus, die sich für die Relevanz der Philosophie für die ungarische (wie jede andere) Gesellschaft einsetzt. Lüge und Verleumdung seien die Mittel, mit denen die Medien ihre Angriffe konstruierten.

„Die Anomalien des Forschungsförderungssystems, die nicht das Verschulden der um die Förderung Konkurrierenden sind, sind verantwortlich für diese Situation, und es ist eine fatale Verzerrung der Wahrheit, den Forschern die Verantwortung zuzuschieben. Die Forscher haben im Austausch mit den zugesprochenen Fördergeldern sehr wertvolle Leistungen erbracht.“

Auch wenn Verbrechen im Zusammenhang mit Forschungsfördergeldern nicht kategorisch auszuschließen sind, ist die gegenwärtige ungarische Kampagne als bestürzend zu beurteilen. Vor dem Hintergrund der dortigen Gefährdung von Menschenrechten und Demokratie ist es dringend notwendig, die ungarische Regierung damit zu konfrontieren, dass die Bürger und Regierungen der Europäischen Union nicht bereit sind, bei Menschenrechten und Demokratie Abstriche zu machen. Als erste Schritte dazu scheinen das Zeichnen der genannten Petition, die Herstellung von Öffentlichkeit und die klare Stellungnahme darin angebracht. Er bloggt es. Er, er und er auch. Sie auch?

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7 Antworten zu “Philosophie in Ungarn

  1. Pingback: Menschenrechte in Ungarn | Erbloggtes

  2. Laszlo Tengelyi teilte am 23. 01. 2011 eine Korrektur mit: „Freunde aus Ungarn haben mir deutlich gemacht, dass ich meinen offenen Brief an einem Punkt korrigieren muss: Bei den in Rede stehenden Bewerbungsgeldern handelt es sich nicht um Förderungsgelder, die aus der Europäischen Union stammten. Das Nationale Amt für Forschung und Technologie, das unter vielen anderen Bewerbungsprojekten aus den verschiedensten Wissenschaften auch die sechs inkriminierten Bewerbungsprojekte gefördert hat, verteilt Gelder aus einem Innovationsfond, der nach einem gesetzlich vorgeschriebenen Prozentsatz aus der Steuer der in Ungarn tätigen Unternehmungen gebildet wird. Mittlerweile hat sich in Ungarn die Lage dadurch verschärft, dass am Freitag eine polizeiliche Ermittlung gegen Frau Ágnes Heller (emeritierte Professorin der New School for Social Research) und Herrn Mihály Vajda (emeritierter Professor der Universität Debrecen, eine Zeitlang Mitarbeiter der Universität Bremen) eingeleitet wurde.“

  3. Pingback: Unrechtsempfinden weltweit | Erbloggtes

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  5. Tiefer in die Vorgeschichte und Hintergründe der aktuellen Aktion gegen die ungarischen Philosophen steigt nun „PusztaLeaks“ mit einem zwölfseitigen Dossier ein.[1]

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