Piraten ohne SMV: Klarmachen ohne zu ändern!

Ermöglicht es die übliche Verfasstheit politischer Parteien nicht, die Zahl der Mitbestimmenden zu maximieren, so zielte die Piratenpartei gerade auf dieses Problem der Parteiendemokratie in Deutschland (und anderswo). Zum Zwecke größerer innerparteilicher Mitbestimmungsmöglichkeiten für möglichst viele Parteimitglieder wurde in den vergangenen Monaten viel über die Einführung einer „ständigen Mitgliederversammlung“ (SMV) nachgedacht und gestritten. Auf dem Bundesparteitag 2013.1 haben die Piraten am Wochenende über Satzungsänderungen diskutiert und abgestimmt, mit denen eine SMV hätte eingerichtet werden können.

Das Ergebnis: Es gibt keine SMV. Detailliert beschreibt Till Westermayer den Ablauf der Veranstaltung unter diesem Gesichtspunkt. Das Scheitern aller SMV-Vorschläge rückt die Piraten einerseits weit von ihrem Anspruch weg, das Versprechen gesellschaftlicher Mitgestaltung auch tatsächlich parteiintern einzulösen. Andererseits positionieren sich die Piraten durch das zweite zentrale Thema des Parteitags in einer ganz traditionellen Weise im Parteienspektrum: Beschlossen haben sie ihr Wahlprogramm für die im September anstehende Bundestagswahl.

Piraten: die kleinste unter den etablierten Parteien

Dem Erfordernis konventioneller Politik war es auch geschuldet, dass das tiefgreifende Grundsatzthema nicht zuerst behandelt und abgeschlossen wurde, sondern dass nach einem Einstieg in die SMV-Debatte zunächst das Wahlprogramm beschlossen wurde, bevor es am Samstag Abend und am Sonntag bis in den späten Nachmittag wieder um die SMV ging. Die Piraten haben damit den Forderungen, die das bundesrepublikanische Polit- und Mediensystem in der Vergangenheit an sie stellte, nachgegeben und sich inhaltlich detailliert positioniert, anstatt ihre formale Positionierung als Mitmachpartei in den Vordergrund zu stellen und sich inhaltlicher Positionen zu enthalten, bis sie eben durch einen breiten Mitmachprozess hindurchgegangen sind.

Die Alternative, das Wahlprogramm zur Bundestagswahl auf einen Programmpunkt zu beschränken, der etwa wie folgt lauten könnte, wurde nicht als erfolgversprechend angesehen: Die Piratenpartei will die Beteiligung aller Betroffenen an jeder politischen Entscheidungsfindung stärken und wird sich daher für die Stärkung demokratischer Prozesse einsetzen. Was die Betroffenen inhaltlich entscheiden, ist der Piratenpartei an sich egal. Die Mehrheit wird schon am besten wissen, was gut für sie ist. Eine solche Position könnte man radikaldemokratisch nennen (böse Zungen behaupten, man müsste eigentlich diese Position demokratisch nennen, wenn das Wort nicht schon von undemokratischen Positionen besetzt wäre).

Piraten verkehrt

Piraten ohne SMV

Aus der Perspektive, dass die Piraten eine Alternative im traditionellen Parteiensystem darstellen wollten, ist das Scheitern einer SMV und der Beschluss eines konventionellen Wahlprogramms ein herber Verlust. Protestwähler kann man so nicht gewinnen, und daher werden sich diese wohl eine Alternative suchen. „Protestwähler“ ist ja auch gerade das Schimpfwort im massenmedialen Politdiskurs, dem die Piraten sich entziehen wollten, um möglichst rasch möglichst normal zu erscheinen. Dieses Bestreben drückte sich auch vor einem Jahr durch die Wahl eines beamteten Regierungsdirektors (Personalreferent im Verteidigungsministerium) und katholischen Familienvaters zum maximal „bodenständigen“ Parteivorsitzenden aus. Der bohèmehafte politische Geschäftsführer trat dagegen nach zahlreichen Anfeindungen (etwa betreffs seiner Fußbekleidung) zurück und wurde auf dem Parteitag durch Katharina Nocun ersetzt.

Nach dem Scheitern der SMV-Vorschläge sieht Anatol Stefanowitsch die Piratenpartei vor dem K.O., weil „sie nicht in der Lage ist, ihr Versprechen eines politischen Systemwandels einzulösen.“ Wenn er befürchtet, „tatsächliche Mitgestaltungsmöglichkeiten wären weniger wichtig als der Mythos der Mitgestaltung, wie ja auch bei den Grünen tatsächlicher Umweltschutz weniger wichtig ist als der Mythos des Umweltschutzes“, dann bezieht er dies auf die Erfordernisse des gegebenen politischen Systems, in dem Macht sich weniger nach Taten und konkreten Interessen richtet als nach Sonntagsreden.

Das eherne Gesetz der Oligarchie

Ganz diesem Credo folgend, gehörten die üblichen Reden der Parteispitze, in denen sie die Piraten wortreich zur Kraft der Erneuerung stiliserte, ebenso zum Parteitag wie die Beschlüsse, formal genau so sein zu wollen wie alle anderen „etablierten“ Parteien, sich eben nur durch die inhaltliche Programmkonfiguration von diesen zu unterscheiden. Der deutsch-italienische Soziologe Robert Michels hatte bereits 1911 „Zur Soziologie des Parteiwesens in der modernen Demokratie“ (Titel) geforscht und dabei „Untersuchungen über die oligarchischen Tendenzen des Gruppenlebens“ (Untertitel) angestellt. Er betrachtete vor allem die SPD, damals eine sehr progressive Partei, die für Demokratie eintrat und die etablierten Kräfte des Kaiserreichs ordentlich ins Schwitzen brachte mit ihren radikalen Reformideen.

„Seine zentralen Thesen besagen, dass Führungsgruppen in Organisationen zunehmend an eigenen Interessen, persönlichem Nutzen – insbesondere sichergestellt durch den Erhalt der Organisation – interessiert sind. Die einstigen Ziele der Gruppe, an deren Spitze sie stehen, treten so in den Hintergrund. Führungsgruppen versuchen demnach, die soziale Basis, die ‚Massen‘, zu lenken, selbst dann, wenn die herrschende Ideologie dieser Gruppierungen das Gegenteil anstrebt.“[1]

Was Michels „Das eherne Gesetz der Oligarchie“ nannte, klingt nach umstürzlerischer und verschwörungstheoretischer Propaganda, ist aber eine ernstzunehmende soziologische Theorie. Der Selbstbehauptungsdrang einer Organisation setzt sich in dieser Weise durch – als Alternative zur Oligarchieetablierung steht der Zerfall der Organisation den Beteiligten stets vor Augen, so dass sie im Interesse der von der Organisation repräsentierten Ziele selbst Entwicklungen zustimmen, die jenen Zielen widersprechen. Immer wenn es zu den Zielen einer Organisation gehört, Macht auf möglichst viele Menschen zu verteilen (Mitbestimmung, Demokratie, Basisdemokratie, direkte Demokratie), geraten Organisationen in den Widerspruch zwischen Machtkonzentration (die die Umsetzung der Ziele erst ermöglichen soll) und Machtverteilung (die das eigentliche Ziel ist).

Latente und manifeste Piratenträume

Die nötige Machtkonzentration einer Zweidrittelmehrheit für eine Satzungsänderung übertraf daher auch bei den Piraten nicht der Antrag für eine umstürzende SMV, sondern der Antrag für die Einführung des konventionellen Basisbefragungs-Instruments der Urabstimmung.[2] Das ist nicht weiter bemerkenswert, allerdings sehen einige Piraten dies als Ersatz für die entgangene SMV, wie die Bezeichnungen „Regelmäßige Mitgliederversammlung (RMV)“[2] oder „Urnen-SMV“[3] ausdrücken. Der Wunsch ist stark in der Partei, nicht so spießig zu sein wie die anderen. Daher rühren auch partisanenpolitische Aktionen wie die ungefragte Anerkennung der Grünen Jugend als zweiter Jugendorganisation der Piratenpartei (Antrag X034, behandelt ab 2013-05-12 17:09:16).

Die Aussichten für eine künftige SMV sieht der neue Beisitzer im Parteivorstand Andi Popp positiv: Der „Mut zu mehr Online-Mitbestimmung“ fehle den Piraten nicht; dass diese kommen solle, da seien sich die Piraten einig; umstritten sei nur, wie[4] (so auch Christopher Lauer, 2013-05-10 21:36:04). Dass keine der verschiedenen SMV-Varianten die nötige Mehrheit erreicht habe, führt Popp auf „Geschäftsordnungseffekte“ und eine ungünstige Abstimmungsreihenfolge zurück.[4] Festzustellen ist jedoch, dass zwar eine Mehrheit der (auf dem Bundesparteitag anwesenden) Piraten mehr Online-Mitbestimmung befürwortet, dass jedoch gegen jede konkrete Form der Umsetzung mindestens ein Drittel der Stimmberechtigten schwerwiegende Bedenken hat.

Was gegen mehr Demokratie spricht

Die Bedenken speisen sich aus den Grundsätzen des bestehenden Parteiensystems – und zeigen so, dass die Piraten sich nicht zugleich etablieren und das System transzendieren können. So wird etwa argumentiert, der Grundsatz der geheimen Wahl lasse sich in einer SMV nicht mit der Überprüfbarkeit und Fälschungssicherheit der Wahl vereinbaren. Das für eine SMV vorgesehene Delegationssystem widerspreche zudem der Unmittelbarkeit und Freiheit der Wahl. Sogar das Argument tauchte auf, eine SMV diene der Stärkung der innerparteilichen Oligarchie, indem sie „Superdelegierte“ schaffe, deren Stimmgewicht das aller anderen weit überrage.

Es ist recht beeindruckend, wie auf diese Weise mehr Demokratie mit weniger Demokratie gleichgesetzt wird. Gerade Argumente nach dem Muster „Mehr Mitbestimmung ja, aber auf keinen Fall so! Dann lieber gar nicht!“ sind interessant. Der dahinterstehende Gedankengang ist doch: Eine Entscheidung unter Beteiligung von mehr Menschen ist womöglich schlechter als eine Entscheidung von weniger Menschen, sofern man selbst sie richtig findet. (Denn allein technische Bedenken können kaum ausreichen, um gegen die Ersetzung eines ebenfalls nicht perfekten Abstimmungsverfahrens durch ein anderes zu sein.)

Ins Extrem getrieben wünscht diese Argumentation den wohlwollenden Diktator herbei, der in seiner Weisheit und Güte das durchsetzt, was man selbst richtig findet. Tatsächlich wird sie nur eingesetzt, um sich gegen Bestrebungen zur Ausweitung von Mitbestimmungsmöglichkeiten zu wehren. Aber das enthaltene Ressentiment gegen Abstimmungen von mehr Menschen lautet, sie könnten zu weniger wünschenswerten Ergebnissen führen – und das lässt sich beliebig in Richtung Wahlrechtsbeschränkung, Technokratie, Elitenherrschaft, bis hin zur Erbmonarchie oder zum Philosophenkönigtum ausdehnen.

Die Piraten haben antidemokratisches Denken nicht erfunden. Gerade in Deutschland hat es große Tradition. Die österreichischen Piraten haben hingegen bereits ein Jahr Erfahrung mit einer SMV und stellen ein großes Plus an Breitenbeteiligung fest, nachdem die SMV-feindlichen Parteieliten abgetreten sind. Wer natürlich Angst davor hat, Macht in die Hände einer breiten Masse zu legen, sollte auf den Parteitagen lieber kein Dope verteilen.

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10 Antworten zu “Piraten ohne SMV: Klarmachen ohne zu ändern!

  1. „Das Ergebnis: Es gibt keine SMV“ – dieser Satz ist falsch. Die Anträge SÄA011 „Basisentscheid und Basisbefragung – Beschlüsse außerhalb von Parteitagen“ (https://wiki.piratenpartei.de/Antrag:Bundesparteitag_2013.1/Antragsportal/S%C3%84A003) und X011 „Entscheidsordnung für Basisentscheide (SÄA003)“ (https://wiki.piratenpartei.de/Antrag:Bundesparteitag_2013.1/Antragsportal/X011) wurden angenommen, und damit die Möglichkeit für verbindliche Entscheidung – online wie offline – geschaffen. Die Qualitätspresse und einige Blogger konnten nur mit ihren Veröffentlichungen nicht lange genug warten, bis das Ergebnis der Abstimmung verkündet wurde.

  2. Wenn Du den Artikel bis zum Ende gelesen hättest, statt nach dem ersten Satz des 2. Absatzes einen Kommentar zu posten, wüsstest Du, dass ich auf das Thema Basisbefragung per Urabstimmung (SÄA003 & X011) ausführlich eingehe und feststelle, dass einige Piraten dies als Ersatz-SMV ansehen.

  3. Okay, sorry, habe ich tatsächlich übersehen.
    Allerdings würde ich Deine Ausführungen weder als ausführlich bezeichnen, noch sehe ich den Unterschied zwischen einer „umstürzenden SMV“ und dem „konventionellen Basisbefragungs-Instrument der Urabstimmung“. Im Kern ist es dasselbe.
    Der Punkt ist: Die Piratenpartei kann nun ausserhalb von Parteitagen verbindliche Beschlüsse fassen – und das durchaus auch online.

  4. Du siehst wirklich keinen Unterschied zwischen dem, was alle haben, der Urabstimmung, und dem, was keiner hat, der permanenten Programmfortbildung durch alle ans Netz angeschlossenen Piraten mit einem Klick?
    Deinen letzten Satz halte ich bis zum Beweis des Gegenteils für eine rein theoretische Möglichkeit. Jede online-Abstimmung kann von 5% der jeweils angemeldeten Teilnehmer verhindert werden, indem diese einfach geheime Abstimmung verlangen, die nicht online durchgeführt wird [X011, §3(2) i.V.m. SÄA003 (5)].
    Davon abgesehen, dass der Bundesvorstand derzeit einfach selbst entscheidet, was er wann und auf welche Weise abgestimmt sehen will (man nennt das in anderen Parteien „der Vorstand ruft die Basis an“), und dass daher abzuwarten bleibt, wie begeistert der Vorstand diese Möglichkeit nutzen wird (die ersten Anträge auf Basisentscheide sind ja oben verlinkt), sind mit „Sachverhalten, die dem Bundesparteitag vorbehalten sind oder eindeutig dem Parteiprogramm widersprechen“ [SÄA003 (1)] wohl allerlei Sachverhalte (u.a. Programm, Satzung, Vorstand) vom Basisentscheid ausgeschlossen und werden dann lediglich „als Basisbefragung mit lediglich empfehlenden Charakter“ [ebd.] durchgeführt. Also wie bisher. Nur dass es hier eine Begrenzung auf 20 Anträge pro Stichtag gibt (was auch völlig reicht, da der nötige Aufwand ohnehin nicht darauf ausgelegt ist, das Verfahren praktikabel zu machen).
    Von Teilnahmehürden beim Urnengang fange ich gar nicht erst an. Da kann ich ja gleich zur Bundestagswahl gehen.

    P.S.: Man beachte jedoch, dass die Einführung einer Urwahl von SMV-Gegnern leicht als Argument dafür nutzbar ist, es sei gar nicht mehr nötig, eine SMV zu beschließen, denn die gäbe es ja im Prinzip schon. 😉

  5. In MV gibt es eine SMV. Also dürfen die Piraten weiter existieren – auch in deinen Augen. Oder nur dort ? Bei den Piraten soll es ganz amerikanisch immer bitte schnell und am besten sofort gehen. Dabei dauern solche Prozesse in einer Demokratie länger – die Piraten werden den Weg abkürzen, aber sich nicht in eine bessere Zuklunft beamen können. Wie lange hat das mit dem 3-Klassenwahlrecht, dem Frauenwahlrecht oder dem Kinderwahlrecht gedauert ? Eben.

  6. Und trotzdem kann man diesen Text auch als „Mehr Mitbestimmung ja, aber auf keinen Fall so! Dann lieber gar nicht!“ gegen den Basisentscheid lesen.

  7. Das eigentliche Problem war doch, dass keiner der SMV Anträge die Eckdaten modular abstimmbar angeboten hat und dass die Antragskommision inhaltlich konkurrierenden Anträge nach ihrer formalen Überlappung in der Satzung in Blöcke gepackt hat.
    In manchen Anträgen wurde daher SMV z.B. mit Klarnamenspflicht vermischt, Ein klassisches Eigentor!
    Macht also die Unfähigkeit der Antragsteller sich auf einen gemeinsamen modularen Antrag zu einigen für das Scheitern verantwortlich, die Versammlung konnte nur über das Entscheiden was eingereicht war.

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  10. Sehr schade (sogar geradezu tragisch), dass die Piratenpartei die (r)evolutionäre Idee der „Liquid Democracy“ nicht einmal bei sich selbst umgesetzt bekommt…
    http://misanthrope.blogger.de/stories/2301904/

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