Schavans Vermächtnis BIG Esoterik?

Erhärtete sich der Verdacht, dass es sich bei Ernst Theodor Rietschel um einen der größten Schavanisten aller Zeiten handelte, einst anhand seines legendären AvG/S-Wertes von 306,[1] so ist heute anzunehmen, dass er für seine treuen Dienste im Düsseldorfer Hochschulrat großzügig entlohnt wird durch Einrichtung des 310-Millionen-Euro-Spielplatzes „Berliner Institut für Gesundheitsforschung“ (BIG) ohne universitäre Lehr- oder Forschungsaufgaben:

„Rechtlich geht das eigentlich nicht, weshalb der Mittelfluss durch Umleitungen ein wenig verschleiert werden muss. Auch leidet die Neugründung schon am altbekannten Helmholtz-Syndrom: Das viele Geld […] kann so rasch gar nicht ausgegeben werden. Doch glücklicherweise sind diese Mittel beliebig übertragbar.“

Wie, ohne Lehr- und Forschungsaufgaben? Was macht das BIG denn dann? Krankenversorgung? Das Bundesministerium Schavan stellte Ende 2012 zur Aufgabenverteilung dar:

„Die Charité wird weiterhin für die akademische Forschung und Lehre und die Krankenversorgung verantwortlich sein. Das MDC [Max-Delbrück-Centrum] übernimmt weiterhin die programmorientierte Großforschung, wie sie auch von den übrigen Mitgliedseinrichtungen der Helmholtz-Gemeinschaft, den nationalen Großforschungszentren, wahrgenommen wird. Das ‚Berliner Institut für Gesundheitsforschung‘ ist aufbauend auf dem großen Potential von Charité und MDC für die Errichtung eines gemeinsamen Forschungsraums – zunächst unter dem Paradigma der Systemmedizin – zuständig.“[2]

Das BIG soll also nichts anderes tun als einen Forschungsraum schaffen. Aber was ist mit „Systemmedizin“ gemeint? Das Wort kommt in der deutschsprachigen Wikipedia derzeit genau einmal vor: „Systemmedizin (Akupunktur, Relaxationstechniken, Oneirologie)“.[3] Akupunktur ist das Teilgebiet der traditionellen chinesischen Medizin (TCM), bei dem man mit Nadeln die Lebensenergien des Körpers (Qi) stimuliert.[4] Relaxationstechniken dürfte etwa die Progressive Muskelrelaxation (PMR) umfassen, die vor allem „bei Patienten mit leichteren Symptomen, die von vornherein der Wirksamkeit der PMR positiv gegenüberstanden“, wirkt.[5] Oneirologie schließlich bedeutet Traumdeutung und lässt sich vielleicht als seriöseste unter diesen Methoden ausmachen.

Offenbar handelt es sich bei Systemmedizin um ein Konzept, das sich von der „Schulmedizin“ abgrenzen möchte, um mit unkonventionellen Ansätzen die Ganzheitlichkeit von Erkrankung und Heilung in den Blick zu nehmen. Das Bundesministerium Schavan konzipiert dies offenbar als wissenschaftliche Revolution zur Etablierung des „Paradigma der Systemmedizin“.[2] Ganz so krass esoterisch mochte das Bundesministerium Schavan das natürlich nicht formulieren:

„Der Begriff ‚Systemmedizin‘ wird von der EU-Kommission relativ eng als ‚Übertragung von Methoden der Systembiologie in die Medizin‘ definiert (s. CSA Systems Medicine). Schwerpunkt ist hier die mathematische Modellierung kom­plexer Lebensprozesse. Im Kontext des e:Med-Konzeptes wird der Begriff in einem erweiterten Verständnis verwendet: Es geht hier nicht nur um die Übertragung ’systembiologischer Methoden‘, sondern generell um die Übertragung system­orientierter Ansätze in die Medizin, welche die Betrachtung komplexer Zusammenhänge in ihrer Gesamtheit ermöglichen.“[6]

Ganzheitlichkeit (Holismus) ist dem Ansatz demnach aber nicht abzusprechen. In der vom Bundesministerium Schavan forcierten Variante e:Med ist dies noch deutlich stärker und willkürlicher als im EU-Konzept festzustellen. Ziel sind die

„Aktionsfelder ‚Gebündelte Erforschung von Volkskrankheiten‘, ‚Individualisierte Medizin‘, ‚Prävention und Ernährung‘ sowie ‚Gesundheitsforschung in internationaler Kooperation‘. Vorrangiges Ziel ist es, die Systemmedizin in Deutschland zu etablieren.“[6]

Da kann man nur sagen: Wie gut, dass das BIG, das nun „für die Errichtung eines gemeinsamen Forschungsraums – zunächst unter dem Paradigma der Systemmedizin – zuständig“[2] ist, der Charité weder in die universitäre Lehre und Forschung, noch in die Krankenversorgung hineinpfuschen darf.[7] Schön, dass der neue Forschungsraum für Ernst Theodor Rietschel mit 310 Millionen Euro so gut gepolstert ist.

tl;dr: 310 Millionen Euro bekommt der Schavan-Unterstützer Ernst Theodor Rietschel für ein in mehfacher Hinsicht fragwürdiges Großprojekt.

Nachtrag, 25. November 2013: Anders als das BMBF es darstellt, bietet die Systemmedizin, richtig verstanden, durchaus zukunftsträchtige Perspektiven: Die haben aber nichts mit Akupunktur und Traumdeutung zu tun, auch nichts mit Ganzheitlichkeit (Holismus),[6] sondern eher mit wissenschaftstheoretischem Reduktionismus. Das bedeutet, dass medizinische Theorien mit biologischen Theorien vereinbar (sogar in sie übersetzbar) sein sollen, biologische mit chemischen, chemische mit physikalischen, und eben Makrotheorien mit Mikromechanismen. Dementsprechend definiert ein Workshop von 2010 Systemmedizin so:

„‚Systems medicine‘ is the application of systems biology approaches to medical research and medical practice. Its objective is to integrate a variety of biological/medical data at all relevant levels of cellular organization using the power of computational and mathematical modelling, to enable understanding of the pathophysiological mechanisms, prognosis, diagnosis and treatment of disease.“[8]

Dieser Definition folgend versuchte Markus A. Dahlem beispielsweise jüngst, Migräne auf dem Wege mathematischer Modellierung besser zu verstehen: Was weiß denn schon die Mathematik von Migräne?

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3 Antworten zu “Schavans Vermächtnis BIG Esoterik?

  1. Man möchte hier mit Frau Merkel den Helmholtzern zurufen: Betretet mutig systemmedizinisches #Neuland!

  2. Sehr geehrtes Erbloggtes,

    Sie und ich, wir haben eine Form des Umgangs miteinander entwickelt, die begründet ist in Ihrer Verehrung für einen Mann, der es bis zum Doktor gebracht hatte. Wir haben erlebt, wie sich – gleich einem Wetterumschwung – die Meinungen änderten über das, was Wissenschaft ist und was nicht. Ich kann mir gut vorstellen, dass es zu postumen Rehabilitationsmaßnahmen kommt, d.h. die eine oder der andere den akademischen Titel zurückerhält, schon allein ob der Überlegung, dass es nicht sein kann, dass man jahrelang für nichts und wieder nichts mit seiner Doktorarbeit befasst war. Sie haben sich komischerweise noch nie zu der Frage geäußert, ob Sie selbst ebenfalls promoviert haben, und wenn ja, ob Ihnen nicht von Zeit zu Zeit mulmig zumute ist.

    Ihr Theo-Ullrich Ludwig von Eichenbach

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