Elitendämmerung

Erwachtes Schicksal des grausamen Untergangs oder gesellschaftlicher Prozess im Fortgang der Aufklärung? In der FAZ titelte Jürg Altwegg vorige Woche „Elitendämmerung“ (kein Link aus Protest gegen das LSR) und schloss seinen Artikel mit dem Satz:

„Frankreichs Elitendämmerung geht weiter.“

Mit dem Neologismus spielt der Genfer Kulturkorrespondent auf die „Götterdämmerung“ an, die nordische Sage vom Untergang der Götter und Weltuntergang. Die Eliten ersetzen in der Anspielung die Götter. Die aus dem kulturellen Gedächtnis mit diesem Titel assoziierbare Aussage lautet also:

Kampf der untergehenden Götter

F. W. Heine: Kampf der untergehenden Götter, 1882. Odin bekämpft zu Pferd den Fenriswolf, Thor attackiert im Vordergrund die Midgardschlange, Freyr ringt links mit dem Feuerriesen Surtr.

Die Eliten gehen in grausamen Kämpfen unter, anschließend folgt der Weltenbrand.

Was war geschehen? Der französische Steuerminister Jérôme Cahuzac musste wegen Steuerhinterziehung zurücktreten. Und der Großrabbiner von Paris Gilles Bernheim habe

  1. in seinem Buch Quarante Méditations Juives seitenweise plagiiert,
  2. behauptet, nicht er sei der Plagiator, sondern die Autoren der Vorlagen hätten bei ihm abgeschrieben,
  3. nach Unhaltbarkeit dieser Ausflucht die Verantwortung auf einen Ghostwriter abgeschoben,
  4. zudem einen akademischen Titel unrechtmäßig geführt.

Bernheim sei „eine moralische Instanz in Frankreich, deren Argumente gegen die Ehe für Homosexuelle gar von Papst Benedikt zitiert wurden“, schreibt Altwegg. Doch tatsächlich handelte es sich bei Bernheims Essay über die Homo-Ehe ebenfalls um eine Kompilation: Er hatte von einem katholischen Priester abgeschrieben – kein Wunder, dass das dem Papst gefiel. Inzwischen ist auch  Bernheim zurückgetreten. Bernheims tiefer Fall erschüttere die Republik, schreibt Altwegg: Ein Erdbeben als Beginn von Ragnarök? Nun ja.

Internationaler Elitendämmerungsdiskurs

Glücklicherweise handelt es sich dabei ja bloß um „Frankreichs Elitendämmerung“, in Deutschland hingegen ist alles in Ordnung. Die deutschen Eliten sitzen fest im Sattel, die Welt geht also vorerst nicht unter. In Deutschland ist ausgezeichnete Schwarzgeldexpertise geradezu Bedingung für den Job des Finanzministers. Und Plagiate … naja, Altwegg nennt sie für Frankreich wie Steuerhinterziehung ein Kavaliersdelikt. In Deutschland könnte man geradezu von einem Volkssport sprechen, wenn es nicht immer um Eliten ginge.

Die Wortschöpfung „Elitendämmerung“ ist sehr treffend, weil damit ein Diskurs auf den Begriff gebracht wird, der in den deutschen Medien bereits lange präsent ist: Spätestens seit Guttenberg werden in Deutschland Eliten gejagt und verfolgt. Kleinste Verfehlungen werden ans gnadenlose Licht der Öffentlichkeit gezerrt und dort dem Spott des Pöbels preisgegeben, der Existenzen vernichtet und damit die Grundpfeiler der Welt zum Einsturz zu bringen droht. Ein Verteidigungsminister ist doch kein wissenschaftlicher Mitarbeiter! Ein Präsident wird sich doch wohl ein Bobbycar schenken lassen dürfen! Eine Bildungsministerin ist doch keine Studentin mehr, es waren doch ganz andere Zeitumstände, und Betrug gab es im Wilden Westen gar nicht!

An den Grundfesten der Gesellschaft nagen in dieser Sage die Mächte der Finsternis, die da heißen Internet, Plagiatsjäger und Mob. Gemeinsam ist diesen Fällen, dass an den Regeln, gegen die Eliten verstoßen haben, festgehalten wird: Man darf nicht betrügen, man darf sich nicht bestechen lassen, und lügen darf man auch nicht. Aber die Anwendung der entsprechenden Regeln auf die konkreten Fälle wird bestritten: Alles nicht so schlimm, liege hier gar nicht vor, man solle nicht übertreiben, jeder mache mal Fehler, das sei alles nur menschlich, und man solle mal nicht zum Unmensch werden. Nicht zuletzt ein Argumentationsmuster kann einige Prominenz für sich beanspruchen: Jeder sei gleich zu behandeln, daher dürfe Funktionsträger X nicht anders behandelt werden als Erika Mustermann. Insbesondere eine Schmutzkampagne sei unverschämt und respektlos, daher sei die Schmutzkampagne der eigentliche Regelverstoß.

Eliten und der demokratische Rechtsstaat

Der Sinn hinter diesen Diskursen ist es, eine hierarchische Struktur zu stabilisieren, in der Eliten einer Masse gegenübergestellt werden müssen, um gesellschaftliche Herrschaft überhaupt möglich zu machen. Eliten sind auserwählt (lat. electus) zur Macht (Machtelite) – sie erhalten gesellschaftliche Funktionen (Funktionselite). Die Auswahlprozesse können unterschiedlich sein. Eine Auswahl einer Elite durch eine Masse (Demokratie) ist zuweilen als formales Element enthalten. Inhaltlich jedoch steht auch bei demokratischer Elitenwahl die Eignung im Vordergrund:

Die Leistungselite soll die gesellschaftlichen Funktionen besonders gut ausführen können. Das legitimiert die Übergabe der Macht an sie. Genauer gesagt wird die demokratische Machtübergabe durch die größere Leistungshoffnung der wählenden Masse legitimiert. Zu dem Zweck, die größere Leistungshoffnung der wählenden Masse zu wecken, werden auch die Kandidaten für Wahlen ausgewählt und zugerichtet. Drei Kategorien von Qualifikation sind dabei in einem modernen demokratischen Rechtsstaat besonders beachtlich: Bildung, Wirtschaft und Recht.

In einem Rechtssystem erwecken Juristen besondere Leistungshoffnungen, so dass sie überdurchschnittlich häufig etwa in den Bundestag gewählt werden. (In einer Junta sind hingegen hochrangige Militärs vielversprechender.) In einem auf Wirtschaft basierenden Gesellschaftssystem können auch Ökonomen oder Unternehmer mit Leistungshoffnungen punkten. Und eine Wissensgesellschaft bestimmt schließlich auch gerne Bildungseliten zu Funktionseliten, so dass als optimaler Oberfunktionär ein gebildeter, wirtschaftlich erfolgreicher Rechtskundiger angesehen wird.

Elite trotz Affäre? Ideologie des Auserwähltseins

Die Affären, über die Eliten stolpern und stürzen, greifen häufig in diesen Punkten die Leistungshoffnungen der Masse an. Angeblich Gebildeten nimmt etwa ein Doktorentzug diesen Status und verkehrt ihn ins Gegenteil: geprüfte Unfähigkeit im Bereich Wissenschaft. Unternehmer verlieren durch Bankrott ihren Status, weshalb der FDP-Politiker Christian Lindner alles daran setzte, Berichte über seine Insolvenz zu unterdrücken. Und – vielfach zusätzlich zu den vorigen Punkten – Rechtsverstöße dementieren wirksam die Leistungshoffnung im juristischen Bereich: Ein Justizminister, der die Promillegrenzen senkt und anschließend mit Alkohol am Steuer erwischt wird, ist ein Witz.[1] Dass er anschließend mit großer Mehrheit zum Landtagspräsidenten gewählt wird, nicht.

Die Funktionsübertragung an Eliten beruht darauf, dass sie (bessere) Leistungen zu erbringen versprechen. Die in politischen Affären öffentlich werdenden Umstände widersprechen dieser Hoffnung und demonstrieren, dass es sich nicht um eine echte Leistungselite handelt, deren gesellschaftliche Privilegien sich durch das zugrundeliegende Ideologem „Leistung –> Funktion –> Privilegien“ rechtfertigen lassen.

Trotz dieses Ideologems kursiert angesichts von Affären jedoch vielfach die Auffassung, Funktionseliten seien auch nur Menschen und daher berechtigt, allerlei Arten menschlicher Verfehlungen zu begehen. (Die Grenze, welcherart Verfehlung nicht begangen werden dürfe, wird dabei in die Willkür des Beurteilenden verschoben.) Diese Auffassung ignoriert jedoch die Grundlage des demokratischen Rechtsstaat, dass jeder gleich an Rechten sei, darüber hinausreichende Privilegien aber eigens legitimiert werden müssten. Die Legitimation „Leistung –> Funktion –> Privilegien“ entfällt; sie wird von dieser Auffassung sogar für verzichtbar erklärt. Stattdessen wird eine formale Legitimation durch das vergangene Wahlverfahren stark gemacht, da dies die aktuelle Legitimität in den Bereich des Meinens verschiebt. Der Funktionsträger kann nach Belieben behaupten: „Ich habe weiterhin das Vertrauen der Wähler.“

Die Drohung der Massenmedien mit dem Weltuntergang im Angesicht zahlreicher von Affären bedrohten Eliten ergibt sich aus dem Nahverhältnis von politischen und wirtschaftlichen Eliten mit Journalisten. Zudem zählen viele Journalisten ebenfalls zu den Funktionseliten moderner Gesellschaften; auch sie sind privilegiert, und auch sie davon bedroht, die Legitimität ihrer Privilegien einzubüßen, wenn dies auch anders funktioniert als bei politischen Eliten. Und schließlich greift die ständige multimediale Thematisierung von elitären Legitimitätsverlusten die Grundlage der Aufteilung in Elite und Masse selbst an:

Die Leistungsideologie

Nachdem mit dem Feudalismus die Idee der edlen Geburt im Wesentlichen untergegangen ist (und nur noch bei Rassisten weiterbesteht), blieb vor allem die Theorie übrig, dass die Unterschiede des gesellschaftlichen Status von Menschen durch ihre unterschiedliche Leistung zu rechtfertigen seien. Das ist die Leistungsideologie. Verbunden mit dem gesellschaftlichen Status ist natürlich auch der Anspruch auf den Besitz von Statussymbolen. Das universelle Mittel zu ihrer Aneignung – und damit selbst Meta-Statussymbol – ist Geld. „Leistung muss sich wieder lohnen“, heißt es in irgendwelchen Parolen, die von den passenden Eliten auf Basis der Leistungsideologie ausgegeben werden.

Der Diskurs über Armut und Reichtum ist in dieser Gesellschaft zugleich ein Status- und Leistungsdiskurs. Eine aktuelle Medienanalyse zeigt, dass aus vorhandenem Reichtum an Geld und Privilegien automatisch darauf geschlossen wird, eine entsprechende Leistung läge vor:

„Obwohl niemand in der Lage ist, Einkommensunterschiede, die das Hundertfache übersteigen, mit persönlichen Arbeitsleistungen zu erklären, lassen nicht wenige Kommentare genau diesen Leistungsbezug ausgesprochen oder unausgesprochen mitlaufen. Das wird restlos absurd, sobald es um die Vermögensverhältnisse geht, wo sich ererbte Milliardenvermögen und Armseligkeit trotz jahrzehntelanger Arbeit gegenüber stehen.“[2]

Damit wird das unlösbare Problem der Messung von Leistung umgangen, indem in einer Art säkularer Prädestinationslehre die laut Ideologie durch unterschiedliche Leistung erst legitimierten Differenzen zum Kriterium der Leistungsmessung erhoben werden: Wer Geld und Privilegien hat, habe wohl entsprechende Leistung erbracht.

Dieser Zirkelschluss dürfte weitestgehend immun gegen Kritik auf Grundlage der Leistungsideologie sein, da Leistung nicht objektiv messbar ist. An diesem Problem beißt sich beispielsweise auch die Forderung nach geschlechtlicher Gleichstellung die Zähne aus: Die Leistungsideologie besagt ja nicht nur, dass Entlohnung nach Leistung stattfinden sollte, sondern auch, dass diese bereits stattfände: Der Markt stelle automatisch Gerechtigkeit her. Unter dieser Prämisse ist ein Gender Pay Gap beliebiger Größe natürlich stets durch Leistungsunterschiede gerechtfertigt, ebenso ein beliebig geringer Anteil von Frauen in Führungspositionen. Genau wie jede andere Ungleichverteilung.

Zeit für mehr Elitendämmerung.

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2 Antworten zu “Elitendämmerung

  1. … blubb blubb blubb … Versenkt.

  2. Wenn ich mich recht entsinne, war Elite eine Marke des Kaufhofs. Das fand ich schon immet göttlich komisch, weil es so unfreiwillig passt und zugleich schön ironisch ist.

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