Die nackte Angst

Erbloggtes verzeichnete 2014 einen unerwartet starken Zuwachs in Artikeln zum Thema Sexualität. Damit sind nun nicht die Beiträge gemeint, die Arne R. dankenswerterweise beisteuerte, und in denen es um allerlei Menschliches geht. Vielmehr handelt es sich um eine lose Artikelreihe, in der, pauschal gesprochen, ein Muster der öffentlichen Thematisierung von Sexualität aufgegriffen und kritisiert wird, das sich in jüngerer Zeit zu verbreiten scheint:

Sexualität als Gefahr

Vielleicht ist es zu holzschnittartig, aber die alte, katholische – und protestantische, vielleicht sogar abendländische – Lehre, dass die Fleischeslust böse sei, schreitet derzeit offenbar nicht mehr ihrem sicher geglaubten Untergang entgegen. Vielmehr kehrt sie in jüngerer Zeit im neuen Gewand zurück: Von der Sündhaftigkeit sexuellen Geschehens ist kaum noch jemand zu überzeugen, die neue Welle setzt daher darauf, Sexualität als Gefahr darzustellen. Das geschieht erstmal einfach dadurch, dass Sexualität im Kontext von Gefahr thematisiert wird, was leicht zu dem Eindruck führen kann, es gebe da einen Zusammenhang. Und wenn dabei gar die „Unschuld“ in Gefahr gerät, dann ist klar, dass es weiter um die Sünde geht:

Wie das unter dem Label „Kinder- und Jugendschutz“ läuft, lässt sich etwa am Beispiel Stephanie zu Guttenberg sehen: In der Zusammenfassung ihres diesbezüglichen Engagements im vergangenen Jahrzehnt tritt prägnant hervor, dass Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung stets in einem Atemzug genannt werden mit wahllos(?) zusammengestellten anderen Themen: Da heißt es etwa, Guttenbergs Buch „Schaut nicht weg! Was wir gegen sexuellen Missbrauch tun müssen“ kritisiere „Pornos im Internet, Popsängerinnen in Bondage-Outfits und Topmodelshows im Privatfernsehen“ dafür, dass „Kindern und Jugendlichen die Entwicklung eines positiven Körperbildes und einer ichbezogenen Sexualität“ erschwert werde – Einschub, um den direkten Zusammenhang, in dem das in der Wikipedia steht, zu zerreißen – „Vor allem das Internet habe der Pädokriminalität eine allgegenwärtige Dimension verliehen.“

Konsequenterweise hieß die TV-Sendung, mit der Guttenberg und ihre Organisation „Innocence in Danger“ 2010 Furore machten, „Tatort Internet – Schützt endlich unsere Kinder„. Entsprechend der Tätertypen, die diese „Kinderschutz“-Organisation herausgearbeitet hat (glatzköpfiges Unterhemdmonster, grauhaariges Anzugträgermonster, bemütztes Sabbermonster), und die als Begehungsart von sexuellem Kindesmissbrauch offenbar den Austausch von Chat-Nachrichten präferieren („Who’s really chatting online with your child?“), gelang es eindrucksvoll, davon abzulenken, dass Kindesmissbrauch vor allem im engsten persönlichen Umfeld stattfindet: Verwandte, Lehrer oder Priester wird man in Chat-Räumen vergeblich suchen.

Gefahr für wen?

Der Leipziger Sexualwissenschaftler Kurt Starke, der Jahrzehntelang am dortigen Zentralinstitut für Jugendforschung der DDR arbeitete, hat der Zeitschrift „brand eins“ neulich ein längeres lesenswertes Interview gegeben, in dem er auch auf diesen Zusammenhang der Gefährlichkeit von Sexualität eingeht:

„Auch die Selbstbefriedigung ist nicht mehr das große Schreckgespenst wie früher. Heute traut sich niemand mehr, Jugendliche vor der Selbstbefriedigung zu warnen.

Obwohl sie blind macht?

Tja, dieser Reflex ist leider immer noch da: Heute ist es eben das Internet, das sie verbieten wollen. Oder die Nacktheit. Die wird zunehmend als suspekt empfunden. Vielleicht werden bald Nacktfotos grundsätzlich verboten. Dem nackten Körper wird eine Gefahr unterstellt, als ginge von ihm etwas Böses aus.

Hat Sexualität nicht auch dunkle Seiten?

Ihr wird oft unterstellt, sie habe böse, triebhafte Elemente. Ich denke, dass das falsch ist, dass dem Sexuellen da etwas unterstellt wird. Das Dunkle liegt in der Gesamtpersönlichkeit. Es gibt Menschen, die handeln böse, und es gibt gesellschaftliche Umstände, die das hervorbringen. Weil aber Sexualität jeden betrifft, lässt sie sich gut instrumentalisieren.

Aktuell am Beispiel der Pädophilie?

Indem man das vermeintlich Böse absondert, ist man selbst auf der guten Seite. Früher wurden die Aussätzigen in die Wüste geschickt, das geht heute nicht mehr. Da wird dann der Pädophile als Bestie präsentiert, dabei interessiert es niemanden, um was für ein Phänomen es sich dabei handelt. Aber ein Pädophiler ist ja nicht automatisch ein Straftäter. Trotzdem heißt es: Der ist der Böse, und wir sind die Guten. Aber so einfach ist unsere Welt nicht.

Weil unser aller Begehren nicht steuerbar ist?

Ja, davor hat die Obrigkeit Angst, also geht sie dagegen vor. Das Volk soll in erster Linie die Herrschenden lieben und nicht einander. Der Nacktheit wird heute unterstellt, dass sie etwas Böses in sich trägt, und man erschlägt sie mit Gesetzen.“

Der zuletzt erwähnte Konnex von Herrschaft und Sexualität ist flapsig dahingesagt – wie es sich für so ein hippes Magazininterview gehört. Dennoch ziehen sich die Bestrebungen zur politischen Kontrolle von Sexualität ebenso durch das 20. Jahrhundert wie deren Erforschung. Das ist im 21. Jahrhundert auch nicht anders. Deshalb wird es darauf ankommen, weiter vernünftig über dieses Thema nachzudenken, statt dem Terror zum Opfer zu fallen.

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7 Antworten zu “Die nackte Angst

  1. Was bleibt übrig, wenn man in Sachen Sexualität über alles reden kann? – Das, worüber man nicht reden kann; dies nicht etwa, weil alles schon gesagt worden wäre, sondern weil man ab irgendeinem Zeitpunkt der Entfaltung von Kompelxität nicht mehr weiß, wer was schon gesagt hat, weshalb man, wenn die Geschäfte weiter gehen können und sollen, am besten noch einmal mit dem anfängt, woran sich kaum noch jemand erinnern kann. Es geht also nicht darum, etwas Neues zu sagen, sondern etwas Bekanntes so umzuformulieren, dass wieder einmal nicht erkannt werden kann, wie das Gespräch überhaupt zustande kommen konnte. Egal ist 88, oder, um beim Thema zu bleiben: Egal ist 69.

    Dehalb würde ich gerne eine zarte Kritik an deinem Artikel anbringen wollen: er kommt auch nicht nicht über das hinaus (und daran vorbei) wovon er spricht. Auch dein Artikel macht da weiter, wo tausend andere zu anderen Zeitpunkten bereits weiter gemacht hatten, macht also nur, in einer weiteren Schleife und Variante mit dem weiter, wo viele andere schon angekommen sind.
    Es geht um Ideenlosigkeit, die dadurch entsteht, das jede Idee zulässig ist, niedergeschrieben und sofort veröffentlicht werden kann, ohne Rücksicht auf Verluste. Die Diskussion und Kritik von Ideen und Argumenten, Sichtweisen ist ein trivial-astrologisches Verfahren geworden, um so mehr, da es auch in Bereichen Eingang gefunden hat, die für lange Zeit im Zwielicht von Sprechschwierigkeiten gefangen waren. Dies betraf ehedem das Reden darüber, dass es keinen Gott gibt und dass Sexualität keine Sünde ist. Beides unterliegt nunmehr der gegenteiligen Schwierigkeit: was soll man noch sagen, wenn alles jederzeit, ganz einfach gesagt werden kann? Bestand ehedem die Schwierigkeit darin, mit dem Gespräch darüber anzufangen, so besteht sie heute darin, mit dem Gespräch aufzuhören. Da aber nun weder irgendjemand so einfach anfangen noch irgendjemand aufhören kann (denn wer könnte der Letze gewesen sein, wenn es nicht weiter geht?) , so gilt beide Fälle git das bereits Gesagte: Es muss egal sein. Aber: aber muss es auch egal bleiben?

    Was kann man tun, wie käme man weiter, wie könnte man aus diesem Hamsterrad aussteigen?
    Wie wäre folgende Überlegung, die nicht damit anfängt, den defizitären Charakter der Einschätzungen anderer mit eigenen Defiziten zu konfrontieren? Sexualität ist in der modernen Gesellschaft deshalb zu einem Probelm der Sprechschwierigkeiten geworden, weil Sexualität etwas ist, das sich nur schwer mit dem modernen Zivilisationsmythos der Rationalität vereinbaren lässt. Sexualität ist gemäß des Rationalitätsparadigmas der modernen Gesellschaft nicht zivilisierbar, weshalb, da solche Einsichten nur schwer zu akzeptieren sind, komplizierte Turnübungen vollzogen und schwierige Manöver der Devitation durchgeführt werden müssen, damit man auch noch über Sexualität rational räsonnieren kann, indem man sie z.B. verwissenschaftlicht und für das kompetente Sprechen eigne Experten produziert, die zwar auch nicht anders ficken als alle anderen, aber immerhin anders darüber reden können. Die Maxime könnte also lauten: wenn man schon das beste nicht bekommen kann, dann müsste man notfalls mit dem Zweitschlechtesten einverstanden sein. Was soll man sonst machen? Es kann ja immer noch schlimmer kommen. Den Zivilisatonsmythos in Frage stellen? Wer soll damit anfangen können, zumal diejenigen, die es schon versucht haben, sagen wir Nietzsche, selbst mit irgendwelchen, wenn auch mit fraglichen Zeichen des Expertentums versehen worden sind?
    Sexualität hat sich deshalb als Schwachstelle erwiesen, weil sie aufgrund ihrer Nichtzivilisierbarkeit, enorm anfällig ist für Seduktion. Aus diesem Grund wird eine infantile Sexualität entweder geleugnet oder marginalisiert, weil Infantilität selbst mit allen Zeichen der Anfälligkeit für Seduktion versehen wurde. Etwas ähnliches, wenn auch durch Umkerung der Beobachtung, gilt für alle pschosomatischen Techniken der Selbstbehandlung und Selbsterprobung: weil in dem Fall keine Seduktion und damit keine Testergebnsse ihres sozialen Gelingens beobachtbar werden, wird sowas auf irgendeine Weise in die Peinlichkeit betrieben: Selbstgespräche, Masturbation, Sprechen mit Bäumen, Tieren und Parkuhren und alles, was gesellschaftliche beobachtbar in parasozialen Zusammenhängen eingeordnet werden kann.
    Sagen wir also: eine Sexualaufklärung hat niemals stattgefunden, weil alle Aufklärung mit der Herstellung von Rationalisierbarkeiten verbunden war und niemals mit Methoden der Verwirrung, Verwüstung, Zerstörung, Verführung, Wirrnissteigerung (allesamt sind dies, wie ich das Problem fassen würde: Strategien der Seduktion) zusammengebracht werden konnte. Aus diesem Grund ist Sexualität eine nach wie vor teuflische Sache gelieben: sie widersetzt dem, was Widerstand nötig macht, um die Welt rationalisierbar zu machen.
    Und könnte es sein, dass mit dem Internet nunmehr Techniken und Methoden der Seduktion, die eben nicht persuasiv strukturiert sind, aufkommen, mit denen es erstmals gelingen kann diesen Zivilisationmythos selbst in die Inkommunikabilität zu treiben? Ich denke dabei an die Ubiquität von Pornografie, vor allem diese Selfies und allgemein alle Versuche der Selbstdarstellung. Dass es sich dabei um Versuche handelt, der Persuasion aus dem Wege zu gehen, um eine entscheidende Schwachstelle modernen Menschentums unumgänglich zu belasten: die Anfällgikeit für Seduktion und die sozial-empirische Unerfahrenheit aufgrund nach der wie vor tenazitär funktionierenden Strukturen der Deviation?

  2. Korrektur, der letzte Satz lautet: „die Anfällgikeit für Seduktion und die sozial-empirische Unerfahrenheit aufgrund nach der wie vor tenazitär funktionierenden Strukturen der Devitation? (Nicht: Deviation)

  3. Lieber Kusanowsky, danke für deinen ausführlichen Kommentar, danke auch für die Korrekturanmerkung, die ein Licht auf die Auslegungsprobleme deines Kommentars wirft: Ich zumindest kann mir nie sicher sein, auch nur den Wortlaut des Gemeinten erfasst zu haben, geschweige denn den Sinn des Gemeinten. (In der Tat überlegte ich weiter oben, ob statt Devitation [Vermeidung] vielleicht Deviation [Abweichung] gemeint sei.)
    Dieses Verständnisproblem hat aber auch einen Vorteil: Es macht den Prozess, der bei allem (Miss-)Verstehen stattfindet, und in dem der Sinn einer Äußerung vom Leser neu konstruiert wird, spürbar: Je kryptischer, desto eher merke ich, wie ich Fragmente deiner Ausführungen geistig streiche, Zusätze ergänze, Sinn produziere, wenn auch anderen als von dir intendiert.

    Du unterscheidest zwischen Seduktion (irrational, unzivilisiert) und Persuasion (rational, zivilisiert) und gehst davon aus, dass man zwar ansatzweise versuchen könne, über Sexualität zu räsonnieren, dass dies aber letztlich zum grandiosen Scheitern verurteilt sei, weil Sexualität notwendigerweise der Seduktion zuzuordnen sei. Diese Prämisse entspricht in etwa der oft gehörten Überzeugung, dass Erotik im Ungesagten, Ungezeigten stecke, dass das grelle Licht (der Vernunft) alle Erotik töte, und dass da etwas nicht mit den Mitteln der Moderne, allen voran Wissenschaft, Fassbares existiere, das den Kern von Sexualität ausmache. Erotik sei Différance.
    Ich halte das für falsch. Sexualität, Erotik und Co. sind im Prinzip ebenso rational erfassbar wie alle anderen Objekte der modernen Wissenschaft. Praktisch allerdings stößt dies immer wieder auf schwerwiegende Probleme. Das ist jedoch auch in anderen modernen Wissensfeldern nicht anders.
    Die gängige Auffassung, dass Sexualität von Seduktion, Irrationalität und Unzivilisiertheit abhängig und daher mit üblichen Praktiken der Beschreibung, Diskussion, Analyse und Reflektion nicht angemessen („befriedigend“) erfassbar sei, halte ich für ein ideologisches (notwendig falsch-bewusstes) Residuum der bürgerlichen Gesellschaft, das bis heute nicht einfach oder ganz durchschaubar/überwindbar ist. Die Mystifikation des Sexuellen als des ganz Anderen, Irrationalen, Gefährlichen gehört nach Auffassungen, die ich der Kritischen Theorie zuordnen würde, zu den Grundpfeilern der bürgerlichen Existenz. Nur insofern diese Existenzweise bereits in Auflösung begriffen ist, wird die verbreitete Überzeugung von der unüberwindbaren Irrationalität und Nichtzivilisierbarkeit der Sexualität selbst potentiell überwindbar.

    Ich danke dir für die Kritik, dass obiger Artikel gar nichts anderes tue als in einer Schleife wiederzukäuen, was vielfach bereits gesagt ist. Da stimme ich dir völlig zu. Der Plan hinter der erneuten Thematisierung des im Hamsterrad gedrehten Themas war auch nicht, hier und jetzt die Irrationalität und Nichtzivilisierbarkeit von Sexualität – oder die gängige Überzeugung darüber – zu überwinden (allerdings habe ich den Inhalt der gängigen Überzeugung darüber soeben in Frage gestellt). Es ging mir vielmehr darum, den Versuch nicht aufzugeben, weiter vernünftig über dieses Thema nachzudenken, damit zu dem Zeitpunkt, zu dem dieses ideologische Residuum der bürgerlichen Gesellschaft tatsächlich durchschaubar geworden sein wird, nicht eine andere repressiv-irrationale Formation seine Stellung einnimmt und die Sexualmystik in einem neuen Gewand aufrecht erhält. Da es ein historisches „Zurück“ nicht gibt, müssen Phänomene, die uns restaurativ erscheinen, als Ausdruck einer solchen möglichen künftigen Formation gelten.
    Aus dem Hamsterrad auszusteigen finde ich angesichts dieser Aussicht nicht so eine attraktive Option wie das engagierte Weiterrennen, auch wenn es sich stets im Kreis dreht. Da tut man wenigstens was.

  4. Ich werde noch einen Versuch wagen:

    „Sexualität, Erotik und Co. sind im Prinzip ebenso rational erfassbar wie alle anderen Objekte der modernen Wissenschaft.“

    Das stimmt völlig und ich würde auch niemals versuchen weder dich noch andere von etwas anderem zu überzeugen. Selbstverständich ist Sexualität rational erfassbar, weil sie sich der Rationalität nicht widersetzt. Damit verhält es sich wie mit der Quantenwelt der Physik. Auch diese Quantenwelt widersetzt sich der Rationalität nicht. Und insofern dies so ist, kann die Physik sie erfassen, beschreiben, erklären und Erfindungen daraus ableiten. Aber Physiker wissen auch, jedenfalls die Tüchtigeren, dass auf diese Weise die Quantenwelt nicht einmal einigermaßen vollständig oder angemessen erforschbar ist. Deshalb glauben manche Physiker an eine Art „Zauberwelt“, die sich mit der Sprache der Alltagswelt, mit ihren Begriffen, mit ihrer Logik und mit einem sog. Alltagsverstand nicht erfassen lasse. Die Quantwelt sei ein Zauberwelt, weil die Erfahrungszusammenhänge des Alltags, die erlebbare Normalität des Lebens und die eingeübten Verfahrensweisen des Verstehens auf die Quantenwelt nicht so einfach übertragbar seien. Man hält also dafür, dass die soziale Realität des Lebens normal wäre, aber die infolge wissenschaftlichen Forschens entstandene Quantenwelt wäre seltsam.
    Ich würde das umkehren: die Quantenwelt ist keine Zauberwelt. Eine (wissenschaftliche) Welt, die so etwas wie Quanten als Beobachtungsgegenstand konstruiert ist seltsam, weil sie die sozialen Mechansimen der Sinnfindung, der Faszination nicht durchschauen kann.

    Genauso verhält es sich mit Sexualität. Dass es sich so verhält kann man an den nimmermüden Versuchen ablesen, durch Rationalisierung etwas zu normalisieren, das sich, weil es sich keinen Normalisierungsversuchen widersetzt, gar nicht normalisierungsbedürftig ist. Ich nenne die Pathologisierung, Kriminalisierung, die Phobisierung von Sexualtität, die Zeichenregelungen von Abscheu, Peinlichkeiten, Abdrängung, Empörung. Die Erotisierung und Mystifizierung von Sexualität steht dazu nicht im Widerspruch, sondern ist nur die andere Seite der selben Devitationsstrukturen: die Verherrling des Körpers, welche die Ekelempfindung, die auch ganz normal, ideologisch unterschlägt.
    Und die allerdümmste Auffassung ist die der pro-familia-Sexualitätsaufklärer, die mit dem Satz kommen: Sexualität sei doch etwas Natürliches. Und dann reden sie sehr locker, aber sehr viel und wenig überzeugend darüber, was sie für ganz normal, selbstverständlich und natürlich halten. Aber auch dieser Lockerheit kann man anmerken, wie sehr sie durch Devitation determiniert ist. Es gäbe keinen Grund sich wundern, man könne doch über alles reden. Und die banalste, aber treffsicherste Antwort: kann man nicht, Auch nicht so einfach. Die gespielte Lockerheit, mit der profamilia-Sexualtitäsaufklärer meinen, andere persuasiv zu beeindrucken, ist nur eine besondere Strategie eines sozialen Maskenspiels, übrigens, das sollte man fairer Weise hinzufügen: das beste, das die moderne Gesellschaft erfunden hat. Man könnte glauben: ja, über Sexualtät zu reden sei ganz einfach.
    Ist es emprisch aber nicht. Und die Gründe dafür liegen nicht einem unaufgeklärtem indviduellem Vermögen von bürgerlichen Menschen begründet, sondern in der Sexualtiät selbst.
    Wer redet, wenn von Sexualtiät die Rede ist, von Scham, von Ekel, von Angst, von Aggression, von Schmerz, von Schuld, von Wahnsinn? Alles nur unaufgeklärte Reste dessen, was noch nicht genügend rationalisiert wurde?
    Weshalb man nur eine richtige Wissenschaft finden müsste, um das schon als richtig Bekannte (woher weiß man das) richtig zu erfassen, zu beschreiben und zu erklären? Eigentlich sei in Sachen Sexualität alles klar, eine bürgerliche Gesellschaft habe nur verzerrte Vorstellungen davon, weil sie ihre eigene Form der Vergesellschaftung nicht durschaut? Die Wahrheit über die Wirklichkeit der Sexualität sei schon offenbart, allein die Gesellschaft verschleiere und verhindere die Wahrheit?
    Dummes Zeug! Statt dessen findet die Gesellschaft eine für sie geeignete Weise des Sprechens und Schreibens, des Zeigens, Deutens dafür. Sie findet ihre Wissenschaft, ihre Experten, ihre Theorien und dann auch ihren Gegenstand ihrer Theorien, heißt: sie findet nur ihre Sexualtiät, damit aber nicht jede mögliche, sondern nur eine, über die sie sprechen und schreiben kann, die sie kultivieren, mystfizieren, erotisieren oder pathologisieren kann.
    Aber geht es auch anders? Und wenn ja, dann lautet die Frage: wie kann man das Nachdenken, das Sprechen und Schreiben, das Zeigen, Deuten und Erklären verändern wenn die Mitteln der rationalistischen Persuasion keine beliebigen sind, sondern Persuasion nur für sie geeignete Mittel findet und kennt?
    Was wäre, wenn sich diese Mittel ändern?
    Was wäre, wenn ein Indikator für diese Änderung sich in einer Selbstfremdwerdung alltäglichen Erlebens niederschlägt, das auf Strukturen der Selbstanpassung und Normalisierung angwiesen ist und sich hilflos, ratlos zeigt, wenn diese Strukturen, die ich Strukturen der Devitation nenne, selbst wieder vermieden werden?

  5. Aus deiner soziologischen Sicht ist die soziale Welt, in der das Sprechen (über Physik oder über Sexualität) stattfindet, ja die „Zauberwelt“, die es zu erklären gilt. Auf der Metaebene der Wissenschaftssoziologie ist die Welt des Wissenschaftlers die seltsame Welt, die fragwürdig ist. Entsprechend ist für den Kommunikationssoziologen die Welt, in der die Kommunikation stattfindet, „zauberhaft“ erklärungsbedürftig und seltsam. Das entbindet ihn aber nicht davon, in derselben Welt zu agieren, weil dort sein Alltagsgeschäft (Kommunikationssoziologie oder Wissenschaftssoziologie) stattfindet.

    „Eigentlich sei in Sachen Sexualität alles klar, eine bürgerliche Gesellschaft habe nur verzerrte Vorstellungen davon, weil sie ihre eigene Form der Vergesellschaftung nicht durschaut? Die Wahrheit über die Wirklichkeit der Sexualität sei schon offenbart, allein die Gesellschaft verschleiere und verhindere die Wahrheit?“

    Sowas würde ich nie sagen. Die Wörter klingen zwar wie eine Anspielung auf meinen Kommentar, sind sie aber nicht.
    Es verhält sich doch eher so, dass Sexualität als Gegenstand der Wissenschaft, des Wissens und des Sprechens (im Sinne von Thematisieren, also in anderer Weise als „Ja, weiter, ah, ah!“) keine Zauberwelt ist, die an sich existiert, sondern eine gesellschaftlich erst erzeugte Welt, an der wir sprechend, wissend und forschend mitbauen. (Dasselbe gilt für die Quantenwelt, wobei da vorzugsweise @quantenwelt dran baut).

    Wenn das aber so ist, dann können keine Gründe „in der Sexualität selbst“ liegen. Das Sprechbare und das Vermeidungsfähige werden gesellschaftlich erzeugt; folglich sind sie veränderlich, aber nicht beliebig. Auch wenn es nicht stimmt, dass der Überbau von der Basis vollständig determiniert wird (man kann auf ein Stück Land ja auch verschiedene Häuser bauen), verändert die allmähliche Veränderung der Basis auch den Raum der Möglichkeiten für den Überbau: Im Denken und Sprechen lassen sich dann Anbauten errichten, Teile einreißen und aus den vorhandenen Materialien neu gestalten usw.
    Selbst die Regeln der rationalistischen Persuasion verändern sich ja dabei, und die für sie geeigneten Mittel ebenfalls. Eine „Selbstfremdwerdung alltäglichen Erlebens“ erfolgt ständig, und passt sich ständig an, meist unmerklich, außer vielleicht durch ein Stocken:

    Aber dieser Anpassungsprozess ist – wie diese ganze gesellschaftlich erzeugte Welt – auf Sprachlichkeit angewiesen. Daher wird er gestoppt (oder zumindest gebremst), wenn nach dem Stocken nicht die Überwindung kommt. Das Überwindungsverbot des Stockens ist insofern vielleicht das Wesen des Tabus.

  6. Auf den lesenswerten Aufsatz „Rape on the Campus“ von Zoë Heller aus „The New York Review of Books“ vom 5. Februar 2015 wies hin:
    https://twitter.com/sonjdol/status/558392876225527808
    Die in dem Artikel beschriebene Dialektik der jüngeren Anti-Vergewaltigungs-Politik an US-Colleges ist erschreckend und kulminiert darin, dass Sexualität generell mit Gewalt gleichgesetzt und als Gefahr behandelt wird. Gefahren gelten immer zuerst als bedrohlich für die Schwachen, was dazu führt, dass Regeln, die zum Schutz von Frauen entwickelt werden, darin enden, dass ihre Freiheit am stärksten beschnitten wird.
    An einer Erzählung von Lena Dunham wird zudem exemplifiziert, wie die Belegung von Sexualität mit allseitigen Schuldgefühlen in einer Weise affirmiert wird, wie es sich der Papst nicht reaktionärer wünschen könnte:

    “I feel like there are fifty ways it’s my fault…. But I also know that at no moment did I consent to being handled that way.”

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