Die Gauck-Kontroverse um unmenschliche Weltbilder

Erstaunte Schriftwechsel gehen derzeit über die Frage hin und her, ob Joachim Gauck als Bundespräsident geeignet ist. „Das Netz“ simuliert quasi eine inhaltliche Debatte, die die ganzgroße Koalition aus CDU/CSU/FDP/SPD/Grünen am 19. Februar abgeschnitten hat. Aus rein parteitaktischen Gründen einigten sich die Parteispitzen auf einen Kandidaten, den schon 2010 die Oppositionsparteien allein aus dem Grund unterstützen konnten, weil seine Wahl in ein weitgehend irrelevantes Amt die Regierung Merkel beschädigt hätte.

Sollte die bevorstehende Wahl von Gauck wie prophezeit zum Ende der Ära Merkel beitragen, kann man auch diesmal sagen, dass sich seine Nominierung gelohnt hat. Aber über die persönliche Eignung Gaucks zum Amt des Bundespräsidenten ist damit rein gar nichts gesagt.

Orientierung über eine Debatte

Im Internet artikulierte sich nach Gaucks feierlicher Ausrufung zum Praeceptor Germaniae Kritik.[1] Das ist deshalb erwähnenswert, weil sich anderswo kaum Kritik artikulierte. Die ganzgroße Koalition stritt sich lieber, wer denn nun bei der Nominierung Gaucks „gewonnen“ und „verloren“ habe. Und die irritierende Presse-Allianz Springer-Spiegel-FAZ, die schon Wulff (zu Recht) aus dem Amt gejagt hatte, wollte ohnehin nie etwas anderes als Gauck.[2]

Gauck zu kritisieren erwies sich als erstaunlich leicht für einen solchen ganzgroßen Konsenskandidaten. 140 Zeichen reichten oft aus. Auf Twitter, wo Gauck seit dem Wulff-Rücktritt Dauerthema ist, erbte der Kandidat das Etikett #notmypresident von peinlichen Amtsträgern wie Christian Wulff und George W. Bush. Dazu wurden Äußerungen Gaucks über viele verschiedene Themen herangezogen, die im Gegensatz stehen zu den Überzeugungen vieler Menschen links von der CDU (und das sollen sich ja einige sein, hört man).[3][4] Doch nicht nur das, das Internet ermöglichte es auch, Kritik an Gaucks erster Kandidatur[5][6] und von lange davor[7] in die aktuelle Debatte einzubeziehen.

Bald darauf entwickelte sich ein Backlash zur Gauck-Kritik, der insbesondere argumentierte, Gaucks Äußerungen seien aus dem Kontext gerissen, so verfälscht und insgesamt falsch interpretiert worden.[8][9][10] Das Erstaunliche daran ist, dass diese Reaktion nicht Gaucks politische Positionen zu rechtfertigen versuchte, sondern behauptete, Gauck-Kritiker würden diese nicht korrekt darstellen, böswillig interpretieren oder hätten Gauck nicht richtig verstanden. Die Gauck-Verteidiger wandten sich demnach an Menschen links von der CDU und wollten ihnen mitteilen, Gauck könne ein Bundespräsident sein, der auch ihren Überzeugungen gerecht werde.

Kritik an drei ausgewählten Gauck-Positionen

Doch das ist falsch. Man muss Gauck nicht als Menschen verdammen, um festzustellen, dass seine Überzeugungen nicht die von progressiven unabhängigen Linksintellektuellen in Deutschland sind. Die bisher beste Analyse von Gaucks Positionierungen anhand kontextualisierter und abwägend interpretierter Zitate leistete (übrigens in einer Nachtschicht bis 4 Uhr):

Stefanowitsch, auf den Erbloggtes 2011 zu Themen wie Plagiarismus, Wikipedia und Wissenschaftsverlagen verwies, ist Professor für englische Linguistik an der Universität Hamburg. Er beschränkte sich auf die Diskussion von Gauck-Zitaten zu Sarrazin, Hartz IV und Vorratsdatenspeicherung. (Kritisch geäußert hat er sich auf Twitter aber auch zu Gaucks Äußerungen über den Verfassungsschutz und die Linkspartei, das Internet, den Papst, die Occupy-Bewegung, Systemkritik, Reich-Gottes-Visionen und christlichen Fundamentalismus.) Auch wenn jeder selbst den Sprachlog-Artikel lesen sollte, um ihn im Kontext zu verstehen, lässt sich Stefanowitschs Fazit doch so zitieren:

„Das Netz hat keineswegs einen ‚bösen Gauck‘ erfunden. Es hat eher potenzielle Schattenseiten des sonst gerne als Lichtgestalt dargestellten Gauck aufgedeckt. […] [Um] zu zeigen, wofür Gauck nun einmal steht: Für eine Gesellschaft, in der man sich anpassen muss, oder eben herausfällt, für eine Sichtweise, nach der die Armen an ihrer Armut selbst Schuld sind und nicht auf die Gesellschaft bauen dürfen, um aus ihrer Armut herauszukommen, für Freiheitsrechte, sie nur solange gelten, wie sie nicht in Konflikt mit Sicherheitsinteressen des Staates geraten.“

Vertiefung der Gauck-Exegese

Nur exemplarisch lässt sich Stefanowitschs Gauck-Exegese näher erläutern und bestätigen anhand eines kurzen Ausschnittes aus Gaucks Ansprache:

„Wir wollen eine aufnehmende und einladende Gesellschaft sein; jeder weiß, dass wir Zuwanderer schon aus demographischen Gründen brauchen. Vor kurzem war ich tief bewegt, als ich die mangelnde Beheimatung spürte, die viele von ihnen immer noch verspüren, selbst wenn sie hier geboren wurden.“

Es sind gar nicht Gaucks hierin präsentierte Menschenfreundlichkeit und Empathie, die kritikwürdig wären. Gauck sagt, was er will („Wir wollen“) und was er empfindet („tief bewegt“), und beides ist ihm unbenommen. Wenn er das wirklich will und empfindet, dann kann er sich als Bundespräsident diskursiv dafür einsetzen – und progressive unabhängige Linksintellektuelle werden ihn mit keinem Wort dafür kritisieren.

Was Zweifel an Gaucks Willensbekundungen weckt, sind die Nebensätze, die Argumente, die Wortwahl – kurz: das hinter seinen Zielen offenbar werdende Weltbild.

Für Gauck sind offenbar „demographische Gründe“ die wichtigste (und daher allein zu erwähnende) Rechtfertigung von Migration – genauer gesagt von Immigration nach Deutschland. Welche Gründe Gauck außerdem einfallen mögen, wäre noch zu klären. Allein die Frage, wozu „wir […] Zuwanderer brauchen“, zeigt die unmenschliche Sichtweise des nationalstaatlichen Exklusionismus: Menschen werden bloß als Mittel zu anderen Zwecken betrachtet, hier instrumentalisiert für die demographische Prosperität Deutschlands.

Argumentation mit nationalem Interesse ist nicht sehr präsidiabel. 1990 hätte die BRD auf die gleiche Weise argumentieren können, jeder wisse, dass „wir“ die DDR schon aus demographischen Gründen bräuchten. Das spielte damals jedoch keine Rolle – vermutlich hätte eine solche Begründung die Vereinigung verhindert, da es leicht gewesen wäre, dagegen ihre volkswirtschaftlichen Kosten einzuwenden und das „nationale Interesse“ in irgend etwas anderem zu sehen.

Weiter beklagt Gauck im oben zitierten Ausschnitt die „mangelnde Beheimatung“ von „Zuwanderern“, „selbst wenn sie hier geboren wurden“. Es ist eine sehr „deutsche“ Weltsicht, in der Leute, die ihr ganzes Leben in der selben Stadt „hier“ verbracht haben, als „Zuwanderer“ bezeichnet werden können. „In den USA“, fährt der Atlantiker Gauck fort, sei das besser. Dort würde die Wendung vom „hier geborenen Zuwanderer“ wohl auch als Oxymoron angesehen – aber das könnte Anatol Stefanowitsch sicher besser erörtern.

Wenn Gauck andernorts die „Sprache der politischen Korrektheit“ kritisiert,[11] dann begibt er sich in einen Kreis von konservativen und schlimmeren Leuten, die – ungefähr wie Sarrazin – alles andere als integrative, vereinende oder versöhnende Ziele verfolgen. Das Motto dieser Rhetorik liefert nicht umsonst ein Blog mit dem Titel „Politically Incorrect“, und Gauck erntet dementsprechend mit solchen Äußerungen auch Beifall bei Zeitungen wie der Jungen Freiheit[12] – und bei Sarrazin.[13]

Deprimierende Aussichten

Darüber hinaus hat angebliche Kritik an angeblicher politischer Korrektheit ja heutzutage auch bei Bild, Welt und Spiegel Konjunktur. Und deren Kandidat ist Gauck ja letztlich. Angesichts des bereits ergangenen Ukas könnte man sich jede inhaltliche Debatte um Gauck auch sparen. Dabei ließe sich sicher auch auf anderen Feldern (z.B. VDS[14]) zeigen, welche weltanschaulichen Voraussetzungen der künftige Bundespräsident so mit sich trägt. Wenn man ihm das erklären könnte, hätte er immerhin die Chance, selbst diese Voraussetzungen zu reflektieren. Dabei könnte Gauck erkennen, wie unmenschlich, sogar unchristlich, einige seiner Weltsichten sind. Doch das bleibt wohl bloß ein frommer Wunsch.

Aber noch bleibt die Hoffnung, dass einige der Abstimmenden bei der „Wahl“ des „Aufklärers“ Gauck das mit der Aufklärung vielleicht doch verstanden haben und es wagen, sich ihres eigenen Verstandes zu bedienen, statt zu glauben, dass Mutti schon wisse, was am besten ist. Das Schlusswort gebührt Gauck – wem sonst?

„Demokratie lebt mit Emotionen, mit Ressentiments, mit gegensätzlichen Interessen.“[15]

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3 Antworten zu “Die Gauck-Kontroverse um unmenschliche Weltbilder

  1. Pingback: Wer Gauck im Netz ungerecht behandelt findet, sollte lesen, was man mit Schramm machen kann | Erbloggtes

  2. Gauck ist einfach vollkommen unpolitisch. Freiheit ist kein Inhalt und wenn er nach Inhalten gefragt wird wiegelt er ab. Seine persoeniche Meinung zu den Dingen ist nicht der Rede wert Diese Abwiegelei ist eher sympatisch, btw 😉

  3. Sozusagen präsidial finden Sie diese Abwiegelei und dieses Unpolitische? Könnte sein, dass ich ihn da missverstehe.

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