Vigilanten im Netz: „When I’m a pseudonym, I’m whoever you want me to be.“

Ermöglicht es Superhelden ihre Maskierung erst, Superhelden zu werden und zu bleiben? Die Erzähllogik von Superheldencomics enthält jedenfalls häufig das Spannungselement, eine Enttarnung des maskierten Rächers würde dessen segensreiches Wirken beenden. Schon seit Zorro (1919) sind Doppelleben und Augenbinden beliebt, Kostüme mit der Unterwäsche obenauf führte allerdings erst Superman (1938), der klassische Superheld, ein. Erwähnenswert ist auch The Shadow (1930), der eigentlich nur als mysteriöser Erzähler unzusammenhängender Kriminalgeschichten konzipiert war, sich aber zum Verbrechensbekämpfer – maskiert mit Schlapphut, rotem Schal über dem Mund und Umhang – entwickelte, der sogar die Fähigkeit erhielt, durch Hypnose unsichtbar zu erscheinen.

Die Bedeutung der Maske

Ein Schatten mit Cape wacht im Regen über die nächtliche Großstadt.

Ihre Maskierung ist erforderlich, da sie außerhalb des staatlichen Justizsystems für Gerechtigkeit kämpfen, da dieses korrupt, überfordert angesichts der Kompetenz der Superschurken oder schlicht ungerecht ist. Zur Tarnung führen sie Doppelleben als tollpatschige, reiche, dekadente Männer mit gesellschaftlicher Stellung, die jedoch auch die Missstände der jeweiligen Gesellschaft repräsentieren, die einen Superhelden erst erforderlich machen. Betrachtet man (anders als die Geschichten suggerieren) die bürgerliche Existenz als primär, das maskierte Superheldendasein jedoch als sekundär, dann erfordert das gesellschaftliche Mitläufertum angesichts der dabei affirmierten Ungerechtigkeit einen (typischerweise nächtlichen) Ausbruch aus der Normalität:

Dieser Ausbruch dient dann dazu, der als belastend und defizitär empfundenen alltäglichen Lebenswelt eine bessere, schönere, wahrere Realität des Superheldentums entgegenzustellen. Wahrer? Ja, denn einerseits sind Superheldenerzählungen auf diese als die eigentliche Wirklichkeit des Superheldentums ausgerichtet, das bürgerliche Leben ist nur Fassade. Und andererseits finden in der Welt, in der Superhelden und Superschurken aufeinandertreffen, die eigentlichen Entwicklungen statt, die auch die bürgerlichen Lebenswelten aller anderen Bewohner als bloße Fassade erscheinen lassen: Die Pläne der Schurken bedrohen stets die bürgerlichen Lebensformen der Massen, die davon nichts ahnen, während das heldenhafte Eingreifen der Selbstjustizler solch Schlimmes verhindert oder gar positive Auswirkungen auf zahlreiche Normalmenschen hat.

Eine Wissenschaftsbloggerin im Superheldenkostüm

Dennoch sind Superhelden – wegen ihres Vigilantismus – von staatlicher Seite bedroht, häufig wird auch die mangelnde gesellschaftliche Anerkennung ihrer Wohltaten thematisiert. Letztlich sind sie aufgrund ihrer Maske, wasauchimmer Betrachter in ihnen sehen wollen – bis hin zum Bösewicht, als der Batman in der Dark-Knight-Trilogie erscheinen will, um der Gesellschaft von Gotham City trotz ihrer Defizite das Glauben an sich selbst zu ermöglichen. Das Zitat im Titel dieses Artikels stammt auch von einer Superheldin, und zwar von Scicurious, einer Physiologin und Wissenschaftsbloggerin. Ihr bürgerliches Doppelleben ist geheim, doch im Februar 2013 wurde sie auf der Konferenz ScienceOnline2013 gesichtet – und sogar fotografiert!

Bürgerliche oder vigilante Identität im Online-Profil? CC-BY-SA 3.0 von Zient

Dort leitete sie mit ihrer Kollegin Kate Clancy eine Veranstaltung zum Thema Identität, und zwar genauer zur Identität von Wissenschaftsbloggern in ihren Blogs und im sogenannten Real Life. Beide bloggten einige Überlegungen vorab:

Clancy nannte unter dem Titel Context and Identity in Science Writing #scio13ID als Vorzüge ihres Bloggens unter bürgerlichem Namen vor allem ihre Vorbildfunktion und die Interaktion mit ihrem persönlichen Netzwerk, als Nachteile vor allem die persönliche Angreifbarkeit und den Prozess der Vorurteilsbildung aus dem, was Leser über eine namentlich, bildlich und mit Lebenslauf präsente Autorfigur zu wissen glauben. Scicurious hingegen berichtet im lesenswerten On Identity: #scio13 über ihre Lieblings-Vigilantin Batwoman, und der Eindruck drängt sich auf, dass es ihr stets um die Parallelität von Superhelden und anonymen Bloggern geht. Die Fragen, um die es ihnen ging, basierten auf der Vielfalt der Identitäten einer Person:

„What are the pros and cons of your various identities? What powers do your identities have? How can you use them for good?“[1]

„What identities do you share, and how do they enable or hold back your goals for communicating science? What identities do you hide and why – how do you curate your image? What audiences do you reach? And how does the way we control our identity online affect the diversity of online voices? What careers do you make look possible?“[2]

Viele Inhalte des vom Publikum sehr gelobten Panels bildet ein Storify ab. Dort taucht unter anderem das Thema der Furchtlosigkeit wieder auf, die der düstere Superheld der Rache, Ghost Rider, zu seinem Motto gemacht hat: „You can’t live in fear.“ Doch dass ein weißer Mann mit Lebenszeitstellung dazu aufrief, ein „brave public intellectual online“ zu sein, legte einen Finger auf das Problem von Exponiertheit und Macht. Scicurious erläuterte in ihrem Blog:

„I would say it’s a great thing not to live in fear, until the fear is real, involving real threats (say of losing your job, or simply for being a woman or a feminist or LGBTQ or atheist or anything else). There are also issues of power, what if someone in power over you does not like what you are doing? Those who live on the internet completely without fear are either very lucky in that they are threatened by no one, or so boring that they have nothing worth hiding. Revealing important things on the internet can make you very vulnerable, and while it’s an important thing to do, it’s not something that anyone should do lightly.“[3]

Auch als weißer Mann mit Lebenszeitstellung sollte man wohl nicht leichtfertig Persönliches im Internet ausbreiten, selbst wenn man damit nur Anfeindungen als Feminist oder Atheist oder Schlimmerem entgeht. Allerdings scheint das Grundrecht auf Anonymität im Internet (gestützt auf das Grundgesetz, Art. 1 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 2 Abs. 1 sowie Art. 5 Abs. 1, 10 und 13) nicht die allgemeine Anerkennung zu besitzen, der es bedürfte, um die Superkräfte verschiedener Identitäten heraufzubeschwören.

Who watches the Watchmen?

Blutbespritzter Smiley-Button, das Logo der Watchmen, CC-BY-SA 3.0 von Pumbaa80 u.a.

Stattdessen fürchten tonangebende Teile der hiesigen Bürgerlichkeit solche Vigilanten mit Masken, da sie die Ordnung bedrohen, selbst wenn sie nicht auf der Straße Verbrecher verprügeln, sondern lediglich an der Tastatur öffentlich über das Leben, die Gesellschaft und den ganzen Rest nachdenken. Klarnamenszwang lautet die Parole der Law-and-Order-Politiker, die ihren Abziehbildchen aus den Superheldencomics zuweilen aufs Haar gleichen.

Der Staat ist hier und heute nicht die schwächliche Ansammlung überforderter Gesetzeshüter, die auf maskierte Hilfssheriffs angewiesen wäre, damit die Erzschurken nicht überhand nehmen. Stattdessen sind nicht nur die dunklen Ecken mit Überwachungskameras versehen, die Verbrechen zwar nicht verhindern, aber die Verbrecherjagd 1. erleichtern und 2. medial effektvoller inszenierbar machen. (Christopher Nolans Dark-Knight-Trilogie setzt das eindrucksvoll in Szene.) Auch im Netz ist niemand mehr unkenntlich, wenn es den Verfolgungsbehörden nicht gefällt.

Wirtschaftsphilosoph, eine moderne Augenmaske

Wirtschaftsphilosoph, moderne Augenmaske

Schließlich sind die Maskierten auch, wasauchimmer Betrachter in ihnen sehen wollen. Manche sehen in ihnen Verschwörer, Demagogen, womöglich gar öffentliche Intellektuelle ohne das richtige Parteibuch. Sie fragen: „Who watches the Watchmen?“ Und reißen den Vigilanten die Maske vom Gesicht, wie jüngst im Fall des anonymen Bloggers Wirtschaftsphilosoph. Das entspricht einem gesellschaftlichen Klima.

Die Selbstermächtigung der devianten Maskierten stört die gute Ordnung und wird von der Gesellschaft stärker bekämpft als ihre eigentlichen Probleme. Davon zeugen auch die düsteren Superheldengeschichten der Gegenwart; neben der erwähnten Dark-Knight-Trilogie (2005-2012) etwa die Verfilmung Watchmen – Die Wächter (2009) und die 2012 angelaufene Fernsehserie Arrow. Welch arme Welt, die solche Helden nötig hat.

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7 Antworten zu “Vigilanten im Netz: „When I’m a pseudonym, I’m whoever you want me to be.“

  1. Jan Falk hat auf den ausführlichen Artikel Super Position von David Graeber hingewiesen, in dem dieser 2012 großartig Nolans Dark-Knight-Trilogie vor dem Hintergrund der politischen Theorie des Superheldentums besprach. Graebers Buch Schulden. Die ersten 5000 Jahre machte ihn im selben Jahr in Deutschland bekannt.

  2. Pingback: Superhelden bloggen | The Hero Gotham Deserves

  3. Pingback: Umleitung: Von der Anonymität im Internet über Hoeneß und Homöopathie bis zur Niederlage der Kreispolizei | zoom

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    有道理。很受启发。
    [Vorstehendes bedeutet in etwa: „Das macht Sinn. Sehr aufschlussreich.“]

  5. Pingback: Anonymität im Internet | Erbloggtes

  6. Die Vigilantin Scicurious hat die Maske abgenommen und sich geoutet:
    http://scientopia.org/blogs/scicurious/about/

  7. Pingback: Wer ist Robert Schmidt? Und wofür ist das relevant? | Erbloggtes

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