Peter Gruss, bisher wenig beachteter Top-Schavanist

Erfahrene Schavanisten wissen zu jedem Zeitpunkt wie von selbst – oder wie an einer Schnur gezogen – welche Argumente sie vorzubringen haben. Offenbar entspringt das der Überzeugung, dass die Wiederholung von Behauptungen durch zahlreiche hochbezahlte und einflussreiche Menschen eben diese Behauptungen wahr mache. Insofern ähnelt der Schavanismus deutlich einer Religion, in der die Wahrheit der Glaubensinhalte nur durch das Bekenntnis hochrangiger Würdenträger zu ihnen bekräftigt wird, ohne dass andere Wege der Wahrheitsfindung in Betracht gezogen werden.

Peter Gruss, Foto von Axel Griesch, CC-BY-SA

Nach den neuesten Enthüllungen in der Reihe #schavangate darf man wohl Peter Gruss zu den Erzbischöfen des Schavanismus zählen, der als Präsident der Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften e.V. (MPG) zwischen 2002 und 2014 jährlichen Pfründen von fast zwei Milliarden Euro (2013: 1,94 Mrd.[1]) vorstand. Zum Vergleich: Das Erzbistum Köln, eines der reichsten der Welt, kommt nichtmal auf die Hälfte.[2] Gruss‘ Wort hat Gewicht, weit über die mehr als 80 Unterorganisationen, Forschungsstellen, Institute usw. der MPG hinaus. Und so erklärte er am 17. Oktober 2012 in einer „Politischen Meldung“ unter dem Titel „Faires Verfahren statt Vorverurteilung“, dass Annette Schavan „als Bundesministerin für Bildung und Forschung seit 2005 wesentliche Impulse zur Stärkung des deutschen Wissenschaftssystems“ gesetzt habe. Das steht im ersten Satz, und der Kundige wird dort die Hauptaussage einer solchen Erklärung suchen.

Vielleicht wurden Gruss‘ Bekenntnisse deshalb seinerzeit nicht hinreichend gewürdigt. Hier stand damals in Frage, „wo eigentlich die Häuptlinge der Leibniz-Gemeinschaft und der Max-Planck-Gesellschaft mit ihren Ergebenheitsadressen bleiben.“ Tags drauf kam Gruss, und er musste nicht am lautesten rufen, um zu den Glaubensstärksten zu zählen. Schließlich konnte er Kraft seines Amtes die Verfehlungen nach ihrer Bedeutung für den Glauben sortieren, und zwar von „Unverzeihlich“ (Verletzung der Vertraulichkeit) über „inakzeptabel“ (Funktionshäufung im Prüfverfahren) und „besonders schwerwiegend“ („beschädigt im Besonderen Frau Ministerin Schavan“) bis hinab zu „sehr ernst“ (Vorwürfe des wissenschaftlichen Fehlverhaltens).[3] Bei soviel rechtgläubiger Klarheit konnte sich Gruss‘ Stellungnahme zu Schavans Rücktritt wenige Monate später auf Andeutungen beschränken. Vollzitat:

„Annette Schavan hat als Bundesministerin für Bildung und Forschung wesentliche Impulse zur Stärkung des deutschen Wissenschaftssystems gesetzt. Ihre politische Lebensleistung ist unbestritten. Ich bedaure Ihren Rücktritt, obwohl ich Verständnis dafür habe. Doch die Umstände, die zum Rücktritt geführt haben, lassen viele Fragen offen – insbesondere in Bezug auf die Art des Umgangs mit Personen, die durch ihr Amt besondere öffentliche Aufmerksamkeit erfahren, als auch in Bezug auf den Ablauf des Verfahrens, das schließlich zur Aberkennung des Doktorgrades geführt hat. Darüber sollten wir uns Gedanken machen.“[4]

Schlimm waren offenbar die Umstände, die zum Rücktritt geführt hatten. So schlimme Worte wie “Plagiat”, “wissenschaftliches Fehlverhalten” oder auch nur “Doktorarbeit” kamen in Gruss’ Presseerklärung allerdings nicht vor. Welche impliziten Mitteilungen dem zu entnehmen sind, kann man wohl der Auslegungskunst eines Jeden überlassen. Denn die Tatsachen, die der Promotionsausschuss und der Fakultätsrat der Universität Düsseldorf in der Zwischenzeit festgestellt hatten, waren von MPG-Präsident Peter Gruss ja schon vorab als irrelevant erledigt worden. Seine Erklärung vom 17. Oktober endete nämlich mit einem Satz, der richtig verstanden die Exkommunikation der Häretiker bedeutete:

„Das bisherige Verfahren ist der deutschen Wissenschaft nicht würdig.“[3]

Da kann man schon mal vom Stuhl fallen. Als zuletzt jemand die Formel „der deutschen Wissenschaft nicht würdig“ benutzte, da wurden Doktortitel noch deswegen entzogen, weil jemand jüdische Vorfahren hatte. Genauer gesagt benutzten vorzugsweise Spinner diese Wendung, um ernsthafte Wissenschaftler ohne nähere Begründung als „undeutsch“ zu denunzieren. Zum Beispiel der Jenaer Zoologe, Sozialdarwinist und Rassenhygieniker Ludwig Plate, der 1936 über den Botaniker Otto Renner schrieb:

„Renners […] Aufforderung, diejenigen Arbeiten, welche sich für die ‚denkenden Tiere‘ einsetzen, von deutschen wissenschaftlichen Zeitschriften auszuschließen, ist ebenso wie seine gehässige Schreibweise der deutschen Wissenschaft nicht würdig.“[5]

Für die von Plate erforschten „denkenden Tiere“, die nicht zuletzt den Unterschied zwischen Juden und Hunden einebnen sollten, hatte Renner offenbar wenig Sympathie, was recht unverständlich ist, wo doch Plate offensichtlich ein Vorläufer Loriots war:

„Der Zoologe Plate publizierte 1936 das Ergebnis einer Reihe von ‚Sitzungen‘ mit [dem ’sprechenden‘ Dackel] Kurwenal, die verdeutlichen, wie intensiv er sich mit dieser Thematik auseinandersetzte. Am 15. April 1936 fragte er den Dackel: ‚Was hältst Du von meiner Frau‘ und dieser antwortete: ‚Ich habe sie lieb‘, wozu er 85 mal bellen musste. Auf die Frage von Plates Frau: ‚Sagst Du auch die Wahrheit?‘, erfolgte die Antwort: ‚Ich sage immer die Wahrheit‘. Zehn Tage später machte Plate ein weiteres Experiment. Kurwenal lag hinter dem Rücken seiner Herrin auf seinem kleinen Sofa. Er zeigte ihm einen kleinen Zettel mit dem Buchstaben ‚F‘ darauf und sagte: ‚Belle diesen Buchstaben‘. Kurwenal antwortete mit einer kleinen Bellreihe, deren Sinn war: ‚Lass es doch bleiben, mich hinters Licht zu führen‘.“[5]

Solcherlei „Wissenschaftler“, die andere als „der deutschen Wissenschaft unwürdig“ qualifizierten, gab es seinerzeit einige, nicht zuletzt die Verfechter einer „Deutschen Physik“, die Relativitätstheorie und Quantenphysik als „jüdisch“ ablehnten. Max Planck wurde vom Amt Rosenberg auf jüdische Abstammung oder „Versippung“ hin untersucht, da er die Grundlagen der Quantenphysik geschaffen hatte und auch als Präsident der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft nicht bei der „Deutschen Physik“ oder beim „Aufruf der deutschen Nobelpreisträger“ für Hitler mitmachen wollte.[6] Die Max-Planck-Gesellschaft hat diese Epoche ihrer Geschichte vor einigen Jahren ausführlich untersuchen lassen, aber bei ihrem Präsidenten Peter Gruss ist davon offenbar lediglich die Diktion hängengeblieben.

Da können die Mitglieder des Düsseldorfer Fakultätsrates noch von Glück reden, dass sie sich weiter Doktor nennen dürfen. Heute gibt es zwar immer noch Möglichkeiten des Doktorentzugs wegen Unwürdigkeit, und in den Kommentarspalten las man wiederholt „Überlegungen“ wie die, als erstes müsse man mal die Doktortitel der Düsseldorfer Verantwortlichen überprüfen und aberkennen, aber weiter sind solche Initiativen offenbar nicht gediehen.

Gruss Brief vom 21. Januar 2013

Dass Peter Gruss als Präsident der Max-Planck-Gesellschaft im Januar 2013 einen Brief „An den Fakultätsrat der Philosophischen Fakultät der Universität Düsseldorf“ richtete, in dem er perhorreszierte, „dass in diesem Verfahren zum Schluss alle zu den Verlierern gehören – insbesondere aber die Wissenschaft!“ – das kann man schon als verklausulierte Drohung auffassen. Denn wenn Annette Schavan ihren Doktortitel verliert, inwiefern gehören denn dann „alle“ zu den Verlierern? Würden die meisten Menschen, selbst die meisten Wissenschaftler, nicht viel mehr verlieren, wenn man Annette Schavan aus phantastischen Gründen, die die Schavanisten nicht müde wurden zu wiederholen, einen falschen Doktorgrad ließe? Und woher wusste dann Gruss – so ganz unabhängig vom Ausgang des Düsseldorfer Verfahrens – dass Schavan ihren Doktor zu Recht trug? Ach so, von Wissen kann man da ja nicht sprechen, da geht’s eher ums Glauben.

Und was glaubt man so, als gerade ehemaliger MPG-Präsident? Gruss gab im TV-Interview einen Einblick hinsichtlich der Hauptfrage, was sich denn in seiner Amtszeit, die sich zufällig größtenteils mit der Amtszeit Annette Schavans deckt, verändert habe im Wissenschaftssystem. Wesentlich sei, dass man „erkannt hat, dass Wissenschaft und Forschung für die Bundesrepublik einen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Mehrwert hat“, sowie „dass wir, wenn wir erfolgreich sein wollen als Nation, dass wir mehr investieren müssen in Wissenschaft und Forschung.“ (Später sagt er dann, dass man das eigentlich 1911 erkannt und dann die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft gegründet hat.) Und Exzellenz, denn „ich glaube sehr, dass die Exzellenzinitiative erfolgreich war.“ Aber Hauptsache: „Man hat mehr Geld in das System kanalisiert.“ Man müsse sich fragen: „Dient es nicht nur der Max-Planck-Gesellschaft, sondern Deutschland?“

Peter Gruss hat hier zweifellos bisher zu wenig Beachtung gefunden. Die anderen neuen Beiträge zur Causa Schavan, die sich mit der Ministerin, der Gutachtertriade Tenorth/Benner/Fend und mit Ludger Honnefelder befassen, bringen regelmäßigen Lesern vergleichsweise weniger bis dato Unbekanntes, stattdessen die Bestätigung, dass die Schavan-Affäre mindestens so schlimm war wie zuvor dargestellt. Wahrscheinlich aber war sie schlimmer, selbst als nun bekannt ist, da „Causa Schavan“ die schavanistische Kampagne, die sich als zentral gelenkte Verschwörung der Wissenschaftsfunktionäre gegen die Wissenschaft herrausstellt, ja gerade erst zur Hälfte auf Grundlage neuer Dokumente nachgezeichnet hat. Das sich durchziehende Muster scheint aber zu sein, dass sich im Hintergrund sogar noch empörendere Umtriebe abspielten, als in der Öffentlichkeit zu vermuten war.

Update, 30. Juli 2014: Links auf #schavangate-Beiträge von causaschavan.wordpress.com, die nun ins Leere laufen, haben ihren Bezug im zusammenfassenden Beitrag #schavangate komplett: Das vollständige Dossier – Der Bericht der Uni Düsseldorf zum Download.

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3 Antworten zu “Peter Gruss, bisher wenig beachteter Top-Schavanist

  1. Nein, aus ihrer Sicht haben sich die Wissenschaftsfunktionäre nicht gegen die Wissenschaft gewandt. Vielmehr definieren erst die Wissenschaftsfunktionäre, was und wie Wissenschaft ist. Politik hat Wissenschaft schon immer misstrauisch beäugt, weil sie sich nicht konform zur Politik bewegt. Geld ist das Machtmittel, um Wissenschaft zu steuern. Da ist es aus einem Guss, dass Schavan sich willfähriger Werkzeuge im Wissenschaftsbetrieb bedient, um Macht auszuüben. Es ist wohl die allerbeste Ironie, dass ausgerechnet sie am Ende über ein ihr offensichtlich fernes Thema stolpert, das Gewissen. Was könnte besser die Hoffart illustrieren?

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