Verantwortung für Veröffentlichung nicht vergessen!

Erhört es Stefan Niggemeier, das Flehen der ehemaligen Bild-Mittäter, die ihn bitten, ihre früheren Verfehlungen aus dem Bildblog zu löschen, da sie sich heute stets kritische Fragen dazu anhören müssen? Nein, üblicherweise erhört er es nicht. Die zentrale Begründung trägt er in Frageform vor:

„Aber führt es nicht, umgekehrt, oft zu wünschenswerteren Entscheidungen, wenn Menschen davon ausgehen müssen, dass das, was sie tun, nicht hinterher gleich wieder vergessen ist?“[1]

Diese Argumentation zielt auf eine mediale Substitution der strafrechtlichen Generalprävention: Weil es negative Folgen haben kann, dass (was, wie) man für Bild schreibt, soll die Gesellschaft (die Journalisten) davon abgeschreckt werden, so verwerflich zu handeln. Gleichzeitig wird (als positive mediale Generalprävention) der Glaube der Gesellschaft an die Gerechtigkeit der Medienwelt wiederhergestellt, der durch Bild-Artikel üblicherweise angekratzt wird. Die Assoziation von Bildblog mit Straftheorien[2] löst Niggemeier durch eine seine Begründung relativierende Bemerkung aus:

„Ich halte es durchaus in einigen Fällen für richtig, Namen aus kritischen Blog-Einträgen zu löschen – wenn mir die dauerhafte Form der Bestrafung, die damit verbunden sein kann, unangemessen erscheint.“[1]

Es handelt sich also in dieser Perspektive um eine Übertragung des gesellschaftlichen Systems „Recht“ auf die Medienwelt. In den 24 Stunden nach Niggemeiers Blogbeitrag haben Kommentatoren etwa die zehnfache Menge an Text eingestellt. Dabei wird deutlich, dass diese Systemübertragung polarisiert. Einerseits wird die Nicht-Löschen-Politik als gerecht gelobt, andererseits jedoch aus eben dieser Rechtsperspektive kritisiert:

„Das Problem dabei ist meiner Meinung nach, dass der BILDBlog sich selber zum Richter ernennt. Ob ein Journalist nun Amnestie verdient wird einzig dem Gutdünken der Blog-Betreiber überlassen.“[3]

Auf diesen Kommentar reagiert Niggemeier:

„Nein, wir ernennen uns nicht zum Richter. Wir werden es, ob wir wollen oder nicht.“[4]

In diesem Argumentationsschema verläuft die Diskussion weiter, ob man Bildblog eine „jakobinische Haltung“ vorwirft, die Resozialisierung ehemaliger Bild-Mitarbeiter fordert oder andererseits betont, dass die Folgen für jene Menschen, über die Bild weiter online stehende Berichte gebracht hat (die häufig vom Presserat kritisiert wurden) viel schwerer wögen, es den Bild-Autoren also nur recht geschehe, wenn ihre Verfehlungen online bleiben.

Verwechslung von Recht und Öffentlichkeit

Dabei geht jedoch eine wichtige Unterscheidung verloren, die zwischen dem System „Recht“ und dem System „Öffentlichkeit“. Journalismus und Medienjournalismus haben mit dem System „Recht“ erstmal wenig zu tun. Die Autoren unterliegen ihm wie jeder andere Mensch. Journalisten sind keine Richter, und auch wenn sie sich in so einer Rolle fühlen mögen, über Gerechtigkeit, Strafe und Rehabilitierung nachdenken, sind das völlig falsche Maßstäbe, um ihr Handeln zu beurteilen.

Es mag ja sein, dass das Hineinversetzen in die Position der Betroffenen Mitleid mit ihren erzeugt, oder mit ihren Opfern, ganz nach Belieben. Das darf aber nicht davon ablenken, dass das Rechtssystem auf Basis von Gesetzen und festgelegten Verfahren dafür geschulte und mit Amtsgewalt versehene Richter einsetzt, um über Vorwürfe zu urteilen und angemessene Strafen für Verfehlungen festzulegen, die staatlich vollstreckt werden.

Das Mediensystem hingegen setzt auf Basis von Medientheorie und erprobten journalistischen Arbeitstechniken geschulte Journalisten ein, um die Wahrheit zu recherchieren und – entsprechend ihrer Relevanz – zu veröffentlichen. Öffentlichkeit ist damit ein Subsystem der Gesellschaft, das diese (anders als das Recht) befähigen soll, die in einer konkreten Situation relevanten Informationen zu erhalten, um auf dieser Grundlage bessere Entscheidungen treffen zu können. Dabei ist die Frage nach Veröffentlichung eines Beitrags lediglich, ob eine Information (entsprechend des verfügbaren Wissensstandes) wahr ist.

Spezialfall Internet: Verfügbar, vernetzt, nicht vergesslich!

Das Internet stellt – wie Niggemeier richtig bemerkt – insofern einen Spezialfall von Öffentlichkeit dar, als es potentiell jederzeit und überall verfügbare Informationen bereithält, die dauerhaft mit wenig Aufwand erhältlich sind. So kann ein potentieller Arbeitgeber rasch die in der Netzöffentlichkeit verfügbaren Informationen über einen Bewerber erhalten und muss dann entscheiden, inwiefern diese in der konkreten Situation relevant sind.

Dabei spielt es auch eine Rolle, dass die Netzöffentlichkeit Bildblog-Artikel sehr hoch bewertet und gängige Suchmaschinen diesen Informationen hohes Gewicht zumessen. Dafür ist jedoch nicht Bildblog verantwortlich, sondern die Netzöffentlichkeit als Ganzes. An diese Charakteristik von Internet und Suchmaschine hat sich ein ehemaliger Bild-Journalist offenbar noch nicht gewöhnt, wenn er abwägend Stellung zu einem Fall bezieht, in dem Bildblog einem Bild-Mitarbeiter ein Plagiat nachgewiesen hatte, womit dieser „‚Pech‘ hatte und andere ‚Glück‘ (nicht erwischt zu werden).“

„Er gehört dafür ohne jeden Zweifel kritisiert, muss aber meiner Meinung nach mit der Nummer nicht ewig irgendwo bei Google auftauchen.“[5]

Die Ansicht ist noch verbreitet, das Internet sei ein flüchtiges Medium; was heute geschrieben, sei morgen bereits vergessen. Das ist falsch. Diese Ansicht spiegelt aber den Habitus vieler Journalisten (aus der Zeitungsära) wider, die für das Tagesgeschäft schreiben, in dem es morgen angeblich nichts Älteres mehr gebe als das heute Veröffentlichte. Auch für das Tagesgeschäft produzierte Kriegsberichte und Diplomatendepeschen haben im Internet jedoch eine unabsehbare Halbwertzeit.

Dabei sind die flüchtigen Aspekte des Netzes ein großes Problem, wenn man an die zukünftige Verfügbarheit von Informationen denkt, beispielsweise aus der Perspektive der Internet-Geschichtsschreibung. Die Archive eines heute bedeutenden Kulturphänomens sind bisher nicht so gut auf Dauerhaftigkeit eingestellt wie die Archive der neuzeitlichen Zeitungen, der mittelalterlichen Klosterbibliotheken oder der antiken Inschriften.

Verantwortlichkeit für Veröffentlichtes verfällt nicht

Es ist eine Selbsttäuschung, wenn man annimmt, Stefan Niggemeier (oder irgendwer) hätte eine moralische Pflicht, alte Online-Veröffentlichungen zu „Depublizieren“. Entweder, die Gesellschaft als Ganze hält die dauerhafte Verfügbarkeit von Internetöffentlichkeit für dysfunktional, beschließt das und setzt rechtlich und technisch um, dass alles nach – zum Beispiel – einem Jahr offline geht. Oder – und das ist viel wahrscheinlicher – das ist nicht der Fall, da der Wert der Internet-Öffentlichkeit eben nicht die tagesaktuelle Berieselung ist (mit der Geld verdient wird), sondern die Möglichkeit, schnell die wichtigsten Informationen aus allen Zeiten zu sammeln. Erbloggtes schrieb zur Eigenart der Internetnutzung:

„Diese Lean-Back-Haltung ist ein typischer Unterschied des Fernsehzuschauers  gegenüber dem Internet-Nutzer, der üblicherweise eine Lean-Forward-Haltung an den Tag legt.“[6]

Wer im Internet veröffentlicht – Bild(.de)-Mitarbeiter beispielsweise – muss verstanden haben, dass er das, was er tut, nicht nur heute gegenüber dem Chef vom Dienst, morgen gegenüber seiner Frau und übermorgen gegenüber der Pressekammer des LG Hamburg verantworten muss. Er muss es gegenüber der gesamten Öffentlichkeit und für die Bestandsdauer des Internet verantworten. Das sind viele Menschen und eine lange Zeit. Wer sich dieser Tatsache bewusst ist, wird sich sorgfältiger überlegen müssen, was er online schreibt. Ob man nach sorgfältigem Nachdenken noch unter den Bedingungen von Bild.de publizieren kann, das ist eine ganz andere Frage.

via [1]


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