Augstein werde Antisemitismus vorgeworfen. Eine Medienkritik

Erweist es sich auch als Verständnishindernis, in einer Überschrift einen Konjunktiv zu verwenden, so ist es doch notwendig, begrifflich genau zu sein, wenn die begriffliche Ungenauigkeit die wichtigste Grundlage dafür ist, die erste Sau des Jahres durchs Dorf zu treiben. Das Simon Wiesenthal Center (SWC) ist nämlich nicht so doof, wie ein Großteil der Qualitätspresse glauben machen will. Das SWC ist zwar beteiligt, aber für die Skandalisierung sind die Medien allein verantwortlich.

Die Liste des Simon Wiesenthal Center

Die SWC-Liste, in der Jakob Augstein auftaucht, ist überschrieben als: „2012 Top Ten Anti-Semitic/Anti-Israel Slurs“. Verleumdungen gegen Israel, ließe sich der letzte Teil übersetzen, oder, weil offenbar Akteure gemeint sind: „Verleumder Israels“. Auf der Liste sollen demnach die wichtigsten zehn „people and movements who wield real power“[1] stehen, die entweder antisemitische Verleumder sind oder Verleumder Israels.

Der Qualitätsjournalismus verkürzt das weithin zur „Liste der zehn schlimmsten Antisemiten“ (Minkmar, FAZ) oder Augstein auf Platz 9 der Liste demnach zu „einem der schlimmsten Antisemiten der Welt“ (Drieschner, Zeit). Auch Qualitätsjournalist Augstein selbst scheint die Verkürzung recht gewesen zu sein, wenn er in seiner Stellungnahme „kritische[n] Journalismus als rassistisch oder antisemitisch diffamiert“ sieht.[2] Indem sie zuspitzen und behaupten, das SWC habe Augstein als einen der schlimmsten Antisemiten bezeichnet, können die Journalisten leichter gegen diese Zuschreibung argumentieren. Wenn sie differenziert dargestellt hätten, was das SWC behauptete und welche Bedeutung es dieser Behauptung gab, hätten die Gegenargumente anders aussehen müssen – dazu später mehr.

Inversionen über Inversionen – bloße Rhetorik

Augstein als Antisemiten zu bezeichnen, entwertet den Begriff – was nur den echten (Broder sagt: klassischen) Antisemiten nutzt. Augstein selbst schilderte dies, als er im November argumentierte, Judith Butler als Antisemitin zu bezeichnen, entwerte den Begriff.[3] Im April hatte er Günter Grass dagegen in Schutz genommen, Antisemit zu sein.[4] Im November verteidigte Augstein auch sich selbst gegen den Vorwurf:

„Augstein, du bist und bleibst eine antisemitische Dreckschleuder.
PS: immer schön aufpassen, wenn du über die Straße gehst.“[3]

Das traf ihn sichtlich. Er analysierte in dem Zusammenhang eine Argumentationsfigur aus den israelisch-südafrikanischen Beziehungen und prophezeite, dass man seine Analyse antisemitisch nennen werde:

„Die Israelis nutzten das rhetorisch-politische Mittel der Inversion, der Umkehrung: Die Kritik an der eigenen Unterdrückung der Palästinenser wird selbst in einen rassistischen Zusammenhang gestellt. Und das im Dialog mit einer Gesellschaft, die ihrerseits Zeuge und Opfer furchtbarer rassistischer Verbrechen wurde. Man kann diese Argumentation nur zynisch nennen.
Aber die Verteidiger der israelischen Machtpolitik werden auch diesen Befund als antisemitisch abtun.“[3]

Über das Stilmittel der Inversion („eine sprachliche Figur […], die im Augenblick, so scheint mir, Karriere macht“[5]) hatte sich kurz zuvor FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher geäußert:

„Was ist Inversion? Wenn ein Nobelpreisträger die Juden zur Gefahr erklärt. Wenn die deutsche Justiz den Juden Körperverletzung vorwirft. Anmerkungen zum sprachlichen Sadismus“[5]

Vielleicht hat Augstein sich die Inversion sogar von Schirrmacher erklären lassen. Um „sprachlichen Sadismus“ dürfte es sich auch handeln, wenn man jemanden, der sich gegen Antisemitismus einsetzt, als Antisemiten bezeichnet – oder jemanden, der sich gegen Rassismus ausspricht, als Rassisten.

Wie man Stellung zur SWC-Liste nehmen könnte

Doch zurück zur Liste des SWC: Was hätte verantwortungsvoller Journalismus tun müssen, um die Listung Augsteins korrekt darzustellen und dann zu erwägen, wie berechtigt sie ist? Zunächst hätte man die schwächstmögliche Interpretation der SWC-Aussage extrahieren müssen. (FAZ und Zeit haben stattdessen die stärkstmögliche Interpretation gewählt.) Dann hätte man die Argumente prüfen müssen, die für diese schwächstmögliche Interpretation der SWC-Aussage sprechen. Das SWC selbst führt v.a. übersetzte Augstein-Zitate an. (Broder als Belastungszeugen kann man hier wohl getrost außer Acht lassen.)

Die Mühe, die Originalzitate Augsteins aufzusuchen, vorzustellen und zu diskutieren, hat sich der Qualitätsjournalismus nicht gemacht. Stattdessen war es ein Blogger aus der Freitag-Community.[6] Den mag man natürlich als seinem Herausgeber verpflichtet und daher parteiisch ansehen. Immerhin kommt er zu dem Ergebnis:

„Augsteins Kritik an Israel ist hart, die Worte nicht immer treffend gewählt“.[6]

Doch daraus folgt für den Blogger keine auch nur teilweise Rechtfertigung der Positionierung Augsteins auf der „Verleumder-Israels“-Liste. Denn wie Augstein kritisiert er eine um sich greifende „Gleichsetzung von Antisemitismus mit Kritik an Israel“.[6] Indem er eine „politische Motivation“ bei der Zusammenstellung der Liste konstatiert, sagt er dem SWC nach, damit die Regierung Israels gegen Kritik immunisieren zu wollen. Besser noch argumentiert die taz, wenn sie Augsteins Kolumne als „Nicht antisemitisch, aber eindeutig antiisraelisch“ charakterisiert.[2] Die textnah gestützte Begründung lautet:

„Augstein pauschalisiert nahezu durchgehend, differenziert kaum, seine Wortwahl ist gruselig.“[2]

Dass „undifferenziertes Beklatschen jeder Zumutung des israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu“[2] von niemandem verlangt werden kann, demonstriert, dass die verkürzende Redeweise von der „israelischen Regierung“ oder „israelischen Politik“ oder gar von „Israel“ als Akteur, die im Qualitätsjournalismus so gängig ist, wenn es doch um konkrete Aktionen Netanjahus oder ganz bestimmter anderer Akteure geht, eines der Probleme darstellt, mit denen Augstein sich befassen müsste. Die Pauschalisierungen und Vereinfachungen, die zum guten Ton des Qualitätsjournalismus zählen, entlarven sich in diesem Fall als: Antisemitismusfallen. (Für beinharte Antiaugsteiniten ist es hingegen irrelevant, ob jemand von Israel oder von Netanjahu spricht.[7] Für sie ist sowas wie die Volksseele entscheidend – dazu später mehr.)

Qualitätsjournalismus als nationalistisches/rassistisches/antisemitisches Problemfeld

Warum Israel kritisieren, wenn man Netanjahu kritisieren kann? Warum die USA kritisieren, wenn man Obama oder – noch besser – Bush kritisieren kann? Warum Deutschland kritisieren, wenn man Merkel kritisieren kann? Der Qualitätsjournalismus konstruiert sich Kollektivsubjekte, die jeder Realität entbehren. Die schärfsten Merkel-Gegner sind ebenso Deutsche wie Merkel, die wichtigsten Gegner des US-Präsidenten sind: Amerikaner (nicht Putin, wie manche Nationalgegensatz-Verehrer glauben). Die relevanten Gegner Netanjahus sind Israelis. Diese Israelis muss man unterstützen – man sollte sie nicht ebenso als Gefahr für den Weltfrieden bezeichnen wie Netanjahu oder einige seiner aggressiven Weggefährten.

Das, was sich als Qualitätsjournalismus des Mainstreams heutzutage gut verkauft, das ist genau die Pauschalisierung, die Undifferenziertheit, die gruselige Wortwahl, die die taz bei Augstein kritisiert. Egal mit welcher Tendenz. Zuspitzen, Plakatieren, dem Leser das Gefühl geben, er hätte eine unübersichtliche Gemengelage nach 10 Zeilen Lektüre durchschaut. So sieht er aus, der Qualitätsjournalismus, der Russland gegen Amerika antreten lässt, Deutschland gegen Griechenland und Israel gegen Palästina – als permanente Fußball-WM.

Für Differenzierungen bleibt keine Zeit: Der Leser kann sich doch nicht seitenlang mit Konflikten befassen, auf die er keinen Einfluss, für die er kein Mandat hat. In wessen Tagesablauf passt das noch? Und der Qualitätsjournalist, woher soll der die Kompetenz nehmen, einen Sachverhalt so genau darzustellen, wie man ihn nur kennen könnte – weil man sonst stereotypen Denkmustern aufzusitzen droht? Wozu sollte er das auch tun, wenn es kaum Leser für genaue Analysen gibt? Warum sollte ein Journalist wochenlang Quellen sammeln und abwägen, ausgefeilte Sachstände komponieren und ein abgewogenes Bild zeichnen, wenn die Zeitung noch heute einen knackigen Artikel braucht und das Online-Medium möglichst sofort einen Aufreißer – sonst haben’s die anderen zuerst?

Was Augstein in seinem journalistischen Alltag mit Israel macht: Pauschalisieren, emotionalisieren, zuspitzen, polemisieren. Das machen die Journalistenkollegen nun mit Augstein: Pauschalisieren, emotionalisieren, zuspitzen, polemisieren. Egal was sie nun sagen, ob Augstein ein Antisemit sei oder nicht. Hauptsache die Sau quiekt.

Antiaugsteiniten und der Wesenskern von Völkern

Das SWC hat dem deutschen Qualitätsjournalismus eine tolle Vorlage geliefert. Steile These, kaum Differenzierung zwischen Ahmadinedschad und Augstein, personalisiertes Ranking, so objektiv wie „Die 10 besten Blondinen-Witze 2012“, keinerlei Erläuterung, was an Augsteins Arbeit konkret antisemitisch sei (was das SWC wohl nicht einmal meint) oder was inwiefern antiisraelisch sei. Da müssen sich die Listenmacher doch etwas bei gedacht haben – aber in der Presseerklärung[1] gehen sie darauf nicht ein. Dort fordern sie auf: „Help stop hateful slurs from becoming state-sanctioned violence, and worse“.[1] Aber inwiefern Augstein „real power“ besäße, „hateful slurs“ produziere und „state-sanctioned violence“ Vorschub leiste, dafür gibt das SWC keine Argumente. Es erteilt nur Broder als Testimonial das Wort.

Und der „Respected Die Welt columnist Henryk M. Broder,“[8] der liefert kein Argument, bloß Invektiven. Nicht einmal der publizistische Verweis auf klassische antisemitische Stereotype macht einen Journalisten zum Antisemiten, wie hier dargelegt. Antisemit zu sein, das ist eine Zuschreibung über den Wesenskern einer Person. Jemanden einen Antisemiten nennen, der hier und da antisemitische Denkweisen offenbart, aber keine antisemitische Programmatik unterstützt, das ist ein riskantes Spiel mit der Wahrheit.

Wie erkennt man das Wesen des Antisemiten? Wie erkennt man überhaupt das Wesen einer Person? Man definiert einfach beliebige Kriterien, die dann auf das Wesen schließen lassen. „Deutsch“ zum Beispiel – ein schönes Kriterium. Da kann man sich so schlecht rausreden, zumal wenn man einen deutschen Pass hat. Und wenn alle, die das Kriterium „deutsch“ erfüllen, im Wesen Antisemiten sind, dann ist die Augstein-Frage auch schon geklärt, ohne sich mit irgendwelchen komplexen Differenzierungen befassen zu müssen.

Deshalb erklären die größten Antiaugsteiniten eine Differenzierung zwischen der Verwendung antisemitischer Stereotypen und Kritik am Agieren der israelischen Regierung auch kurzerhand für irrelevant.[7] Entscheidend sei ohnehin nur die kollektive Obsession: „Die Deutschen haben ein Problem, und das heißt nicht Israel, sondern die Obsession dem jüdischen Staat gegenüber.“[7] Beleg überflüssig. Sowas fühlt man. Naja, und der Augstein hat ja einen deutschen Pass, dann wird er da ja wohl auch drunter fallen. Die Kollektivsubjekte, mit denen solcherart Antiaugsteiniten operieren, funktionieren systematisch genau so: Als ob „die Juden, Türken oder Schwarzen“[7] kollektiver Akteur für irgendetwas wären, als ob „Die Deutschen“ ein Problem hätten, aus dem sich dann ableiten ließe, was für ein Individuum gälte, das man flugs dem passenden Kollektivsubjekt zuschlägt.

Diese Art von Nationalessentialismus möchte natürlich keinesfalls als rassistisch angesehen werden. Sondern im Gegenteil als antirassitisch. Aber das ist natürlich in dieser Perspektive ebenso austauschbar wie Antisemitismus und Philosemitismus. Hauptsache, ihre Weltanschauung haben sie schön übersichtlich aufgebaut aus Rassen und Völkern. Und Schuld sind immer die anderen.

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28 Antworten zu “Augstein werde Antisemitismus vorgeworfen. Eine Medienkritik

  1. Es gab letztens einen recht effektiven Benchmark für antisemitische Haltungen: Die Operation Pillar of Defense und den Syrischen Bürgerkrieg. Man vergleiche die Aufregung der selbsternannten Nahost-Friedensaktivisten über
    a) Die israelische Operation mit 100-200 Toten
    b) Den Syrischen Bürgerkrieg mit einem Stand von momentan 60.000 Toten.

    In Syrien leben sogar mehr Palästinenser als im Gaza-Streifen. Irgendwo habe ich letztens die Statistik gelesen, dass die Zahl der Toten in Syrien jetzt die Zahl der Toten im Nahostkonflikt seit 1948 übertrifft. Ich fand es sehr spannend, auf Twitter zu beobachten, welcher der Leute dort, die vorher nichts zu Syrien schrieben, mit Beginn der israelischen Offensive plötzlich mit riesiger Energie über den Gaza-Streifen twitterte und vehement Frieden für die Region forderte. Das ist scheinheilig und – meiner Ansicht nach – auch antisemitisch. Keine Ahnung, ob / was Augstein zu Syrien schrieb, das darfst du recherchieren 😉

  2. Es geht mir eigentlich gar nicht um die Frage, ob man Augstein nun antisemitisch nennen sollte und inwiefern. Zum Haareraufen finde ich eher, warum die allermeisten Medien sich mit dieser Frage nur oberflächlich befassen. Hauptsache eine polarisierende Positionierung. Argumente sind egal. Geklickt wird, was aufregt.

  3. Ehm, also ich habe nur die ersten zwei Absätze gelesen, aber schonmal vorweg:

    a) Die Liste ist eben (und vielleicht bewusst) uneindeutig und genau deshalb muss man die Maximalanschuldigung daraus ziehen. Man stelle sich nur mal die Liste „Die schlimmsten Mörder und Falschparker 2012“ vor.

    b) Unter den Zitaten von Augstein wird Broder mit den Satz „[Jakob Augstein is] a pure anti-Semite“ zitiert.

    Ich schimpfe ja auch gerne über den „Qualitätsjournalismus“, aber hier? Also bitte, wie soll man den Listeneintrag anders als die Bezeichnung als Antisemit verstehen?

  4. @Frank: Danke für den Kommentar! Er belegt sehr schön, was ich irgendwo im Mittelteil schreibe – natürlich nur für Leute zugänglich, die so viel Zeit haben: „Der Leser kann sich doch nicht seitenlang mit Konflikten befassen, auf die er keinen Einfluss, für die er kein Mandat hat. In wessen Tagesablauf passt das noch?“
    Ich würde die von Dir vorgeschlagene Liste übrigens „Die schlimmsten Mörder oder Falschparker 2012“ nennen. Denn das SWC differenziert ja. Wenn alle Falschparker gleichzeitig Mörder wären, müsste man das Falschparken nicht erwähnen. Sogar Broder differenziert, aber er hält eben die Falschparker für gefährlicher.

  5. Habe jetzt auch den Rest gelesen und stimme dir in allem anderen zu. Differenzierung und Präzision sollten eigentlich Merkmale von Qualitätsjournalismus sein. Und in vielen Fällen ist das relativ einfach. „Obama reagierte“ mag vielleicht noch komplexer sein als „Washington reagierte“ oder „Die USA reagierten“, aber sicher nicht zeitaufwendiger im Vermitteln. Und falls doch mehr Zeit zum erläutern eines Sachverhalts notwendig ist, ist es sicher sinnvoller das einmal in die Tiefe gehend zu tun als zehnmal oberflächlich. Ansonsten kann das sehr leicht unbewusst oder bewusst falsch interpretiert werden.

    Im Prinzip verdeutlichst du das ganze Problem ja perfekt im letzten Abschnitt.

    Seinen Eintrag in der Liste interpretieren wir wohl einfach unterschiedlich. Im Gegensatz zu dir finde ich schon, dass man die stärkstmögliche Anschuldigung nehmen muss, wenn nicht explizit in den Einträgen selbst differenziert wird. (Das „und“ in meinem Beispiel sollte auch so verstanden sein, dass dort zwei sich nicht überschneidende Gruppen zusammen aufgelistet werden.) Und wenn ich nochmal darüber nachdenke, frage ich mich auch, ob das SWC überhaupt zwischen antisemitisch und antiisraelisch differenziert, man könnte die Überschrift auch so verstehen, dass die beiden Begriffe synoym verwendet werden. Und selbst wenn sie differenzieren wollten, ist antiisraelisch auch so ein herrlich undifferenzierter und unpräziser Begriff.

    Alles in allem, mit dem Zitat Broders und im Kontext der anderen gruseligen Persönlichkeiten, interpretiere ich diese Liste so, dass das SWC Augstein als Antisemiten bezeichnet.

  6. Ja, diese Argumentation verfolgte auch etwa der Freitag-Blogger (Fußnote [6]): Dass Antisemitismus und Kritik an staatlichem Handeln Israels [vom SWC] gleichgemacht werden.
    Warum ich für die schwächste Interpretation der SWC-Liste plädiere: Wegen des principle of charity (siehe Wikipedia).

  7. Pingback: Ist Augstein nun ein Antisemit? Eine Textanalyse | Erbloggtes

  8. Das Simon-Wiesenthal-Center konkurriert mit der amerikanischen SHIT-Liste, macht es aber viel schlechter. Sogar Broder hilft da nicht weiter. Die Amerikaner sind einfach viel besser! Ein paar freundliche Amerikaner haben eine SHIT-Liste aufgestellt, mit vielen vielen jüdischen Selbsthassern, wie ich einer bin:

    Auch ich bin shit

  9. Danke für den Hinweis! Solch bitteren Zynismus bin ich gar nicht gewohnt. Ich nehme an, dass das SWC (angeblich war nur ein Einzelner für die Liste zuständig) keine Ahnung hatte und einfach Broders Zitaten geglaubt hat (was nicht einmal Broder selbst tun würde, jedenfalls nicht wortwörtlich).
    Jüdischer Selbsthass, so wie bei SHIT-Liste („Self Hating Israel Threatening“) ist geradezu ein antisemitisches Stereotyp.

  10. Hi Erbloggtes,

    Du schreibst:

    +++
    Der Qualitätsjournalismus verkürzt das weithin zur “Liste der zehn schlimmsten Antisemiten“.
    +++

    Das SWC folgt nach Aussage von Rabbi Abraham Cooper dem sogenannten 3D Test von Sharansky. Der 3D Test prüft, ob Israelkritik zulässig oder antisemitisch ist. Wer durch den 3D Test fällt, gilt automatisch als Antisemit. Das heißt, wer auf diese Liste kommt, ist für das SWC Antisemit, denn wer Israel verleumdet, verleumdet die Juden. Das ist die Gleichung des „Neuen Antisemitismus“.

    Durch die Kriterien des SWC, also den 3D Test, erübrigt sich somit die Frage nach einer starken oder schwachen Interpretation. Deswegen ist es irreführend zwischen Antisemitismus und Verleumdung von Israel zu unterscheiden. Denn für das SWC ist das ein und dasselbe. Die Qualitätsmedien liegen dieses mal (vielleicht auch nur zufällig) ganz richtig, wie ich finde.

    Beste Grüße

    aloo masala

  11. Danke für den Hinweis auf den 3D-Test! Cooper erläutert: „Entscheidend sind demnach Doppelmoral, Dämonisierung und Delegitimierung. Trifft eines dieser drei „D“ zu, handelt es sich nicht mehr um bloße Kritik.“[1] Das müsste man sich noch deutlich tiefgehender anschauen.
    Ich möchte die Unterscheidung zwischen antisemitischen Verleumdern und Verleumdern Israels aus der Überschrift der Liste aufrecht erhalten. Die Losung „wer Israel verleumdet, verleumdet die Juden“, sieht offenbar nicht mal das SWC als selbstverständlich an, sonst hätte es diese Unterscheidung in der Überschrift nicht machen müssen. Unter diesen Bedingungen habe ich das auch interpretiert (und habe die gemäßigte Interpretation gewählt, da die radikale Interpretation von weiten Teilen der deutschsprachigen Medienlandschaft mit wohlfeilen Argumenten angegriffen wurde). Dass es Leute gibt, die das für identisch halten/als identisch interpretieren wollen, heißt nicht, dass die Unterscheidung irreführend ist.

  12. +++
    Die Losung “wer Israel verleumdet, verleumdet die Juden”, sieht offenbar nicht mal das SWC als selbstverständlich an,
    +++

    Verleumdung ist hier im Zusammenhang mit der Liste der 10 schlimmsten slurs zu verstehen. Wer Israel in diesem Sinne verleumdet, fällt durch den 3D Test (Dämonisierung) und ist nach Sharanskys 3D Test ein Antisemit. Das ist die offizielle Position des SWC.

  13. Das mag die offizielle Position sein, das kann ich jetzt nicht überprüfen. Aber der Schrägstrich in der Überschrift macht keinen Sinn, wenn „Anti-Semitic/Anti-Israel“ nur eine einzige Bedeutung beigemessen wird. Das beruht auf meiner immanenten Text-Exegese.
    Wie ich schon sagte: Man müsste den 3D-Test genauer anschauen. Quellen dazu:

    Natan Sharansky: 3D Test of Anti-Semitism: Demonization, Double Standards, Delegitimization. In: Jewish Political Studies Review 16, No. 3-4 (Herbst 2004).
    Natan Sharansky: Antisemitismus in 3-D. Die Differenzierung zwischen legitimer Kritik an Israel und dem sogenannten neuen Antisemitismus. In: Hagalil.com, 5. März 2004.

    Demnach ist Dämonisierung insbesondere die Gleichsetzung von israelischer Politik mit Nazi-Politik. Nicht jede Verleumdung Israels ist Dämonisierung. (Auch der Einwand, dass die „10 schlimmsten slurs“ ja wohl dämonisierend sein müssten, zieht nicht. Denn die Liste umfasst ja nur die die 10 schlimmsten, besagt also, dass es noch weitere Fälle auf den Plätzen 11ff. geben müsste. Für die müsste der Dämonisierungsvorwurf aber ebenso gelten. Sonst wäre es eine Liste der 10 einzigen slurs, und das wäre offensichtlich absurd.) Augstein hat das Problem von Nazi-Vergleichen auch „gleich“ eingesehen: „Augstein räumte aber ein, die Verwendung des Begriffs ‚Lager‘ in Hinblick auf die Situation im Gazastreifen sei problematisch gewesen.“[1]
    Zu beachten ist auch, dass der Aspekt der Doppelmoral/Doppelstandards von Sharansky explizit auf Handlungen staatlicher oder ähnlicher Großakteure bezogen wird (UN, Rotes Kreuz). Das sind Akteure, von denen eigentlich Gleichbehandlung erwartet werden kann, die Israel aber ungleich behandeln. Für Journalisten gilt das (ebenso wie für alternde Literaten) jedoch nicht. (Und Augstein kritisiert meines Wissens nicht ausschließlich Israel, sondern auch andere Staaten.) Von Journalisten kann man lediglich verlangen, dass sie nicht eine Partei im Nahost-Konflikt als die allein Schuldige hinstellen.

    Ich sehe aber anhand des 3D-Tests (von dessen Existenz mir die Medien bis zum Cooper-Interview am Freitag gar nichts berichtet hatten), dass meine Textanalyse einer Kolumne Augsteins an den vom SWC angelegten Kriterien vorbei geht. (Auch publikative.org hat Augsteins Texte nicht mit dem 3D-Test konfrontiert, sondern mit bundesdeutschen Antisemitismus-Theorien.) Der „New Antisemitism“ unterscheidet sich deutlich vom „sekundären Antisemitismus“. Nach Sharansky geht der „New Antisemitism“ eigentlich von muslimischen staatlichen oder semi-staatlichen Akteuren aus.
    Wenn es den folgenden Zusammenhang gibt:
    „New Antisemitism“ –> 3D-Test –> „Top Ten Anti-Semitic/Anti-Israel Slurs“
    Warum sollte dann überhaupt ein a) nichtmuslimischer, b) nichtstaatlicher Akteur, bei dem man c) sekundären Antisemitismus finden kann, auf eine solche Liste?

  14. Das Konzept des „Neue Antisemitismus“ integriert Antizionismus und ablehnende Haltung gegen den Staat Israel in das klassische Konzept des Antisemitismus. Es beschränkt sich keineswegs auf den weit verbreiteten Antisemitismus in der islamischen Welt, sondern hat auch den Antisemitismus der Linken auf dem Radar. Sharansky hat zwar genau den Antisemitismus in der islamischen Welt untersucht und drückte seine Sorge davor aus, doch sein 3D Test ist allgemein konzipiert und findet auch allgemein seit Jahren Anwendung.

    Der 3D Test geht von der völlig berechtigten Annahme aus, dass sich Judenhass oftmals nicht direkt, sondern sich durch Israelkritik artikuliert. Diesem Sachverhalt stimme ich uneingeschränkt zu. Die Umkehrung, dass unverhältnismäßige Israelkritik Ausdruck einer antisemitischen Gesinnung ist, halte ich dagegen für einen krassen Fehlschluss. Israelkritik kann, muss aber nicht antisemitisch motiviert sein. Der 3D Test vollzieht jedoch diesen Umkehrschluss. Wer durch den 3D Test durchfällt, ist per se ein Antisemit.

    Die entscheidende Frage ist nicht, ob Augstein durch den 3D Test fällt (was er tut), sondern ob der 3D Test das geeignete Kriterium ist, um antisemitische Gesinnungen zu identifizieren.

  15. (Fortsetzung)

    Weil der 3D Test unbotmäßige Israelkritik mit Antisemitismus gleichsetzt und weil das SWC den 3D Test anwendet, sind israelfeindliche slurs per se antisemitisch. Daher ist der vollständige Titel “Anti-Semitic/Anti-Israel” des SWC-Prangers für mich redundant.

  16. Kannst Du was zur regelmäßigen Anwendung des 3D-Tests „seit Jahren“ sagen? Gibt es eine Agentur, die das staatlicherseits tut?
    Demnach wäre eine solche Stelle – wie das SWC – für Dich dem Fehlschluss erlegen, „dass unverhältnismäßige Israelkritik Ausdruck einer antisemitischen Gesinnung ist“.
    Außer von Gesinnung schreibst Du auch „antisemitisch motiviert“. Dem entnehme ich, dass es Dir beim Antisemitismusbegriff um Intentionen der Akteure geht. Ein Antisemit wäre demnach jemand mit antisemitischen Absichten.
    Das unterscheidet sich natürlich davon, wenn ich von antisemitischen Denkmustern schreibe, die dem Betreffenden nicht einmal bekannt sein müssen.

  17. Der 3D Test wurde von der European Fundamental Rights Agency und dem US State Department „übernommen“. Anwendung fand er beispielsweise auch bei Günther Grass, dem Dämonisierung Israels vorgeworfen wurde. Das Wort „3D Test“ wird i.d.R. nicht ausdrücklich erwähnt. Man erkennt ihn halt an dem jeweiligen D-Wort, wenn einer Person Antisemitismus vorgeworfen wird (es reicht, dass man bereits bei einem D durchfällt).

    Antisemitismus ist für mich in erster Linie eine Geisteshaltung, die Juden oder/und das Judentum pauschal ablehnen. Wenn ich von Gesinnung oder von „antisemitisch motiviert“ schreibe, dann meine ich genau diese Geisteshaltung.

    Laut Sharansky lässt sich diese Geisteshaltung oftmals nicht direkt ermitteln, sondern sie versteckt sich hinter der Fassade der Israelkritik. Das heißt also, der 3D Test ist eine Methode, die oben beschriebene Geisteshaltung zu entlarven versucht.

    Die Argumentation vieler Protagonisten des „Neuen Antisemitismus“ ist, wer gegen den Zionismus ist oder den Staat Israel ablehnt, der lehnt eine Heimstatt für Juden ab und ist damit pauschal gegen Juden, also ein Antisemit.

    Das zeigt, dass der Neue Antisemitismus kein neues Konzept ist, sondern nur ein neues Phänomen, wie sich der klassische Antisemitismus ausdrückt.

  18. Dieser sogenannte 3D-Test ist ja nun eben genau kein Test, jedenfalls nicht im sozialwissenschaftlichen Sinne.
    Für einen echten Test, unabhängig davon, ob er das Vorhandensein eines Merkmals prüft oder dessen Ausprägung, muss aus einer theoretischen Definition eine operationale Definition entwickelt werden, die im Weiteren eine objektive Erfassung und Bewertung bzw. Einordnung ermöglicht. Das ist bei Sharanskys Kriterien aber nicht der Fall – er ist ja auch kein Sozialwissenschaftler, sondern ein Physiker und Politiker, wenn ich es richtig sehe. Seine Kriterien entsprechen weder einer Definition noch einer Operationalisierung. Auf ihrer Basis ist nicht objektiv entscheidbar, ob (oder in welchem Maße) eine Person antiisraelische oder gar antisemitsche Einstellungen hat. Ihre zunehmende Popularität (nicht im wissenschaftlichen Bereich, wie ich stark annehme, aber in der politischen Diskussion) verdanken die drei Ds dem Umstand, dass sie relativ plakativ sind, auf den ersten Blick durchdacht und auch irgendwie plausibel scheinen, und dass sie nicht zuletzt Präzision suggerieren, wo tatsächlich das genaue Gegenteil der Fall ist. Das macht sie zu einem nützlichen Instument in der Debatte.

  19. Oh .. ein „kommentiertes“ Blog, wo unliebsame Meinungen erst garnicht veröffentlicht werden? Wie überraschend = )

  20. Ach Manuel, „dumm“ ist keine Meinung. Das interessiert auch niemanden.

  21. @violet: Ja, diesem Eindruck kann ich mich nicht erwehren. Eigentlich hätten alle Qualitätsmedien, die das ja angeblich professionell machen, erstmal die Klappe halten müssen, bis sie den Zusammenhang
    Augstein-Top-10 –> 3D-Test –> Aussagekraft des 3D-Test
    verstanden hätten. Stattdessen sind sie genau so vorgegangen wie das SWC: Sich auf fragwürdige Autoritäten berufen, Aussagen nicht ernst nehmen, zuspitzen, polarisieren, rumschreien. Danke an die Kommentatoren! Ich denke, hier kann man einen fortschreitenden Erkenntnisprozess nachlesen.

  22. Bildblog schreibt, dass slur *nicht* Verleumder bedeutet.[1] Wenn das so stimmt – wozu ich keine Falsifikation erhalten konnte – dann ist diese meine Überlegung falsch:
    „Verleumdungen gegen Israel, ließe sich der letzte Teil übersetzen, oder, weil offenbar Akteure gemeint sind: ‚Verleumder Israels‘.“
    Das radikalisiert die notwendige Medienkritik. Denn demnach sollen nicht notwendigerweise Antisemiten oder Verleumder auf der Liste stehen, sondern zehn “people and movements who wield real power”, die 2012 antisemitische/antiisraelische Verleumdungen verbreitet haben. Da besteht durchaus ein Unterschied.

  23. Bildblog schreibt, dass slur *nicht* Verleumder bedeutet.[1] Wenn das so stimmt – wozu ich keine Falsifikation erhalten konnte – dann ist diese meine Überlegung falsch: (…)

    Ja, das stimmt schon, dass „slur“ nicht „Verleumder“ bedeutet, sondern höchstens „Verleumdung“, und auch das nicht notwendigerweise. Ein „slur“ ist eine abwertende oder/und beleidigende oder/und verleumderische (usw.) Äußerung.

    Wenn man bei Leo schaut, dann wird „slur“ als Nomen übersetzt mit „Verunglimpfung“, als Verb („to slur s.o.“) mit: „jemanden verächtlich machen“, „jemanden verleumden“.

  24. @Erbloggtes:

    Die Exegese und korrekte Übersetzung des Titels erübrigt sich, wenn man die Einführung des SWC liest. Dort heißt es:

    With Egypt’s Muslim Brotherhood as #1, and the Iranian regime a close second, most of the other empowered anti-Semites are from Europe [1]

    Es ist somit eine Antisemiten-Liste.

    [1] http://www.wiesenthal.com/site/apps/nlnet/content2.aspx?c=lsKWLbPJLnF&b=4441467&ct=12697485

  25. Ich hatte diese Einführungsseite auch berücksichtigt, als ich den Eindruck gewann, dass es sich um Antisemiten/Verleumder handelte. Aber letztlich muss man wohl diagnostizieren, dass das SWC immer wieder widersprüchliche Angaben macht.
    Das hast Du ja heute schon sehr gut aufgeschrieben. Danke!
    Widersprüchliches von Abraham Cooper (SWC) zu Augstein

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