Plagiats-Apologetik: Schavanismus oder Pyrrhonismus?

Ermöglicht es doch nochmals eine grundsätzlichere Betrachtung der Beziehung von Schavanismus und (Plagiats-)Pyrrhonismus, so kommen die Zweifel von Leser (und VroniPlag-Mitarbeiter) „Pl_Hood“ hier gerade recht. Er fragt:

„Nachdem Schavan abgesägt ist, gäbe es doch nicht mehr viel Grund, ihre Arbeitsweise nur ihretwegen weiterhin zu verteidigen. […] Was bewegt die Damen und Herren nun wirklich (politische Verflechtungen einmal außen vor)?“

Das ist eine berechtigte Frage, selbst wenn man personelle Verflechtungen und Verpflichtungen als wichtig einschätzt. Denn die Fäden eines Netzes sind ja nur begrenzt belastbar, daher könnten sie reißen, wenn die Vernetzten durch sachliche Differenzen auseinanderdriften. Nach der Betrachtung, welche Gründe es für ein Anhalten schavanistischer Aktivitäten gibt, folgen einige Überlegungen zu den inhaltlichen und schavanismusfreien Vorzügen des Pyrrhonismus in den Augen seiner Verfechter.

Warum noch Schavanismus?

Schavans Doktor ist entzogen, als Bildungsministerin musste sie zurücktreten. Als Begründung wurde seinerzeit allerdings nicht ihr Promotionsbetrug angegeben, sondern dass eine Bildungsministerin nicht im Amt bleiben könne, während sie eine Universität verklage. Das juristische Verfahren ist noch nicht abgeschlossen, nach dem Verwaltungsgericht Düsseldorf könnten weitere Instanzen folgen. Schavanismus kann dazu betrieben werden, um zwei Ziele zu befördern:

  1. Das Gericht könnte entscheiden, dass die großen Wissenschaftsorganisationen eine herrschende Meinung ausdrücken und das Düsseldorfer Verfahren deshalb fehlerhaft war. Das wäre der Super-GAU – oder der Lottogewinn für alle Plagiatoren, wie man’s nimmt.
  2. Die mediale Umdeutung des zu erwartenden Urteils als formalistisch und die inhaltlichen Argumente der „scientific community“ nicht beachtend kann Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Annette Schavan bis zur Rente bringen, indem sie durch die Instanzen klagt und dabei Verzögerungstaktiken anwendet. (Neun Jahre hat es jüngst in einem Fall gedauert, bis ein Doktorentzug vom Bundesverwaltungsgericht bestätigt wurde.[1])

In beiden Fällen wäre das Ziel der schavanistischen Aktivität, Schavan wieder in Amt und Würden zu bringen, wo sie ihren zweifellos auch heute vorhandenen Einfluss zum Wohle der Schavanisten einsetzen würde. Größere Dankbarkeit wäre ja kaum vorstellbar.

Ein Kommentar von „Dr. Bernd Dammann“, vermutlich ein pensionierter Soziologe mit Interesse an Wissenschaftssoziologie,[2] zum gerade veröffentlichten Düsseldorfer Plagiatsverfahrensbericht trägt einen weiteren Aspekt zur Theorie bei, dass Pyrrhonismus vor allem Schavanismus ohne Namensnennung sei:

„Meine Vermutung geht dahin, die interessierte Öffentlichkeit über den an sich schon bekannten Hauptstreitpunkt, den Verfahrensstand und die Argumentationsstrategie der beklagten HHU in diesem Verwaltungsgerichtsverfahrens zu informieren. Denn die Kernaussage dieses ‚Berichts‘ laute in meiner Lesart, dass mit der Arbeit der Klägerin genau so umgegangen wurde wie in jedem anderen Fall auch (rechtsstaatlicher Grundsatz der Gleichbehandlung), was die Klägerin allerdings entschieden bestreitet.“

Diese nicht unplausible Deutung lässt Simone G. vermuten, dass man dann ja auch allen nach Schavans Rücktritt gepflegten Schavanismus als Munitionsproduktion für das Gericht auffassen könnte:

„Denn vielleicht wäre ja dann bereits die ganze Tagung mitsamt dem Forschungsvorhaben ‚Zitat und Paraphrase‘ auch nicht viel anderes als eine Maßnahme zur Beschaffung von Stellungnahmen, die der zuständigen Kammer im Rahmen des anhängigen Verfahrens vorgelegt werden könnten.“[3]

Solche Methoden zur Beeinflussung der Rechtssprechung sind in Deutschland überwiegend aus den USA bekannt, wo laut einschlägigen Gerichts-Romanen alle Hebel in Bewegung gesetzt werden, um die Geschworenen über die Bande der Öffentlichkeit zu beeinflussen.

Warum Pyrrhonismus post Schavan?

An dem Hinweis von „Pl_Hood“, dass die pyrrhonistisch denkenden Wissenschaftsfunktionäre vielleicht nur mit sich selbst kohärent bleiben wollen, ist gewiss etwas dran. Man sollte den Schavanismus allerdings nicht so sehr als zentral gesteuerte Verschwörung ansehen, sondern eher als Geistesrichtung, die aus der ehrlich empfundenen Prämisse „so eine nette und kompetente Politikerin (die so gut für uns sorgt)“ ableitet, dass Schavan keine Guttenbergsche Blenderin sein könne.

Daraus ergibt sich dann die über den Fall Schavan hinaus reichende Notwendigkeit, zu verhindern, dass so etwas nochmal geschehen kann. In dieser Geistesrichtung ist ja jeder gefährdet, „hinterrücks“ zu Fall gebracht zu werden. Das glauben Schavanisten womöglich wirklich. Denn ohne Fehler und Schwächen ist ja keine Dissertation. Und der klassische Schavanistenglaube, in dem Heike Schmoll etwa die Dissertation des HHU-Rektors Piper mit Schavans Machwerk gleichsetzte, besagt, dass das für einen erfolgreichen Doktorentzug völlig ausreiche.

„Meine von mir verfasste Dissertation ist kein Plagiat […] und sie enthält fraglos Fehler.“

Diese Worte des Großmeisters markieren die zentrale Verteidigungslinie jedes Plagiators. Die Einebnung und Verunklarung des Unterschieds zwischen Fehlern und betrügerischer Täuschung ist in der Öffentlichkeit und vor Gericht entscheidend für den Erfolg von Plagiatsapologetik. Für solche Argumentationen sind sogar seriöse Plagiatsjäger zuweilen empfänglich, wie „Pl_Hood“ hier zeigt:

„Beim Vergleich mit manch schwacher Dissertation erweist sich dieser [wissenschaftliche] Anspruch zuweilen auch ohne Plagiate schon als Makulatur.“

Doch nicht alles, was unwissenschaftlich ist, ist deshalb schon Wissenschaftsbetrug. Doch offenbar sind viele der Ansicht, dass es ein Kontinuum gebe, in dem Betrug und geringe wissenschaftliche Qualität nebeneinander existieren und zwischen ihnen auch irgendwie kein wichtiger Unterschied zu machen ist. Das ist aber falsch. Es liegen Welten zwischen schlechter Wissenschaft und Betrug, auch wenn der sichtbare Unterschied zuweilen nur ein paar Fußnoten groß ist.

Dieser Unterschied könnte durch einen Straftatbestand Wissenschaftsbetrug besser zum Ausdruck und ins öffentliche Bewusstsein gebracht werden. Das wäre ein klares Plus für die Einführung eines solchen Straftatbestandes, wie sie nun der Deutsche Hochschulverband (DHV) vorschlug.[4] Wenn damit allerdings Haken verbunden sind, etwa der, dass eine Universität einen Doktor nicht mehr entziehen dürfte, wenn der Straftatbestand Wissenschaftsbetrug verjährt wäre, dann handelte es sich um ein Danaergeschenk.

Doch zurück zu den systemischen Beweggründen für eine „pyrrhonische Strategie“ breiter Kreise der Wissenschaftsfunktionäre: DFG-Ombudsman Wolfgang Löwer wird die Aussage zugeschrieben: „Gute wissenschaftliche Praxis ist nicht gleichbleibend, sondern unterliegt technischen Veränderungen wie dem Internet.“[4] Solche Aussagen nach dem Muster „gestern ist anders als heute“ und „hier ist anders als dort“ sind ja unbestreitbar. Es gibt immer einen Unterschied, und wenn es nur das Datum oder die Geo-Koordinaten sind.

Doch was sind die relevanten Gesichtspunkte, nach denen Differenz und Relativität bemessen werden? Herrscht bei deren Auswahl Beliebigkeit? Dezisionismus ist im Pyrrhonismus-Artikel als Kritikpunkt genannt, den Pyrrhonisten vorbringen können, um Entscheidungen als beliebig darzustellen. Tatsächlich ist Dezisionismus jedoch das Ziel der „pyrrhonischen Strategie“. Das klingt vielleicht paradox, ist es aber nicht: Auch Pyrrhonisten müssen ständig Entscheidungen treffen. Wenn es aber keine richtige Entscheidung gibt, weil alles unsicher und relativ ist, dann sind die ständig zu treffenden Entscheidungen in die freie Willkür der Entscheidenden gestellt. Beliebigkeit ersetzt Begründbarkeit.

Wenn die freie Willkür der Entscheider herrscht, dann heißt das, dass in Doktorentziehungsverfahren Sachangemessenheit, rechtliche Gleichheit und Rechtsgemäßheit zugunsten von Beliebigkeit abgeschafft werden. Natürlich ist das dann rechtmäßig, und Gleiches wird immer noch gleich behandelt, nur gibt es im Pyrrhonismus nichts völlig Gleiches, und daher auch nichts, was sachangemessener wäre als anderes. Beliebiges. Das würde vergangene Doktorgrade nachhaltig garantieren, da das deutsche Rechtssystem unvereinbar ist mit den pyrrhonistischen Prämissen:

Klagen gegen einen Titelentzug wären plötzlich sehr erfolgversprechend, weil früher ja alles ganz anders war, die Fakultät nicht nachweisen könne, dass früher alles ganz genauso war wie heute, und in Jura wie in Pädagogik, und in Düsseldorf wie in Heidelberg. Und der Leitfaden mit der Düsseldorfer Pädagogik-Norm von 1978 habe 1980 nur theoretisch gegolten, nicht aber praktisch. Wenn aber vergangene Doktorgrade nicht mehr entzogen werden können, dann wird jede Plagiatssuche zur Üblen Nachrede, da ihr Gehalt sich nicht mehr bestätigen lässt.

Damit schlagen die großen Wissenschaftsorganisationen zwei Fliegen zugleich: Erstens kann die Professorenschaft weiterhin promovieren quodlibet. Wäre ja auch schlimm, wenn auf dem Umweg über Betrugsverfahren Ansprüche an Professoren formuliert werden würden, Doktoranden zumindest zu nichtbetrügerischem Arbeiten anzuhalten. Manche sehen es ja offenbar als Eingriff in die Wissenschaftsfreiheit der Plagiatorenbetreuer an, wenn deren Doktorgrade schließlich entzogen werden, „ohne den Doktorvater anzuhören“.

Zweitens wird man dem Motto der Wissenschaftsfunktionäre gerecht, wenn man Plagiatssuche rundweg zur Üblen Nachrede erklären kann: Es gibt kein Problem mit Wissenschaftsbetrug – solange niemand drüber redet! Und so wäre das Problem, dem die jüngste Pyrrhonistentagung gewidmet war, dann auch erfolgreich gelöst:

„Die in den vergangenen Jahren öffentlich gewordenen Fehlverhaltensfälle haben das gesellschaftliche Vertrauen in die wissenschaftlichen Einrichtungen und ihr Personal erschüttert.“[5]

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4 Antworten zu “Plagiats-Apologetik: Schavanismus oder Pyrrhonismus?

  1. Danke für die umfassende Antwort. Hier noch ein paar Anmerkungen meinerseits:

    Es ist richtig, dass schlechte Wissenschaft und Betrug nicht gleichgesetzt bzw. gegeneinander aufgewogen werden können. Betrug ist allerdings häufig eine Begleiterscheinung von fehlender Wissenschaftlichkeit, und in vielen Fällen wird „schlechte Wissenschaft“ wohl auch genauso bewusst wie Betrug praktiziert – und toleriert. Beides, Betrug und schlechte Wissenschaft, sind Symptome in einem System, in dem es an Selbstkontrolle mangelt, externe Einmischung aber nicht gerne zugelassen wird.

    Meinungen, dass ein geringeres Betrugsausmaß bei Dissertationen nicht gleich mit der Aberkennung des Doktorgrads sanktioniert werden sollte, kann man respektieren, auch wenn man sie nicht teilt, finde ich. Der eingeschlagene Weg, dies erreichen zu wollen, indem Plagiate bestritten oder zur gängigen, gar legitimen Arbeitspraxis erhoben werden, ist jedoch völlig falsch.

    Promotionsordnungen unterscheiden nicht zwischen geringfügigen und schwerwiegenden Vergehen, und objektiv wären solche Unterscheidungen wohl oft nur schwer zu treffen. Man könnte einmal fragen, wozu sich die Promotionsordungen der Universitäten und Fakultäten bezüglich akademischen und wissenschaftlichen Fehlverhaltens, dem Umgang damit und den abzugebenden Erklärungen überhaupt unterscheiden müssten. Vielleicht wäre es angebracht, die Promotionsordnungen in den relevanten Punkten zu vereinheitlichen und dabei verbindliche Regeln zu treffen, z.B. unter welchen Umständen ggf. noch mildere Sanktionen (falls gewollt) in Frage kämen, um erhebliche Abweichungen in Verfahrensausgängen zu vermeiden, fragwürdige Begründungen und fragwürdige Freisprüche zu verhindern (vgl. z.B. die Entscheidungen und Begründungen bei den Fällen mit den VroniPlag-Kürzeln Dd, Dv, Jg, Nk, Pes, Ut). Es kann eigentlich auch nicht sein, dass die Verfahren so unterschiedlich durchgeführt werden: Mal mit fakultätseigenen Gutachtern, womöglich unter massiver Beteiligung der Erst- und Zeitgutachter der Dissertation, mal unter Ausschluss der Erst- und Zweitgutachter (wegen möglicher Befangenheit), mal mit externen Gutachtern, und schließlich bei Schavan durch ein 12köpfiges Gremium (wenn ich mich recht erinnere).

  2. Eine (Zwangs)Vereinheitlichung der konkreten Ordnungen widerspricht wohl der Wissenschaftsfreiheit, die 1. als Freiheit der Professoren und davon abgeleitet 2. als Freiheit der Fakultäten (die ja die Professoren kooptieren) verstanden wird. Die wichtigste bundesweit durchgesetzte Vereinheitlichung dürfte in den 1970ern die zwangsweise Abschaffung der paritätischen Besetzung der entscheidenden Gremien sein („Drittelparität“ u.ä.). Mit dem Hebel der Drohung mit einem Ende des Länderfinanzausgleichs gelang den konservativ regierten Geberländern die Festschreibung, dass auch an Reformuniversitäten eine Professorenmehrheit regiert, d.h. nichts gegen die Interessen der Professoren beschlossen werden kann.

    Sowas wäre in dieser Sache wohl nicht möglich. Der andere Vereinheitlichungsweg ist es, die DFG irgendwas beschließen zu lassen, was erfüllt sein muss, damit eine Uni DFG-Geld beantragen kann. Das ist dasselbe Muster wie beim Länderfinanzausgleich. Ich bin aber vor dem Hintergrund der jüngsten Entwicklungen sehr kritisch gegenüber von der DFG durchgesetzten „Verbesserungen“.

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